Das pralle Leben

Mit vier Augen - Das Fotoatelier Michael und Luzzi Wolgensinger

von Frank Becker

Das pralle Leben
 
Kunst und Kultur, Natur, Alltag und sprühendes Leben
im Werk von Michael und Luzzi Wolgensinger
 
Michael Wolgensinger (1913–1990) gehört zu den wichtigsten Schweizer Fotografen der Nachkriegszeit. Mit seiner vielseitigen Fotografie schuf er bis um 1980 ein reiches Werk; ab 1940 entstanden auch preisgekrönte Filme. Ohne die fruchtbare Zusammenarbeit mit seiner Frau Luzzi Wolgensinger-Herzog (1915–2000) wäre das vielseitige Œuvre jedoch nicht entstanden. Die beiden lernten sich während einer Hospitanz an der von Hans Finsler geleiteten Fotoklasse der Kunstgewerbeschule Zürich kennen und eröffneten 1936 ein Atelier, das zum Treffpunkt der Zürcher Künstler- und Theaterszene wurde.
 
Fotografien aus der Arbeitswelt, Straßenszenen, Stimmungen aus der Natur, Reise-Impressionen, Werbetableaus, Architektur- und Industriefotografie, Bilder aus dem Theater… Man kann die Aufzählung fortsetzen, denn Michael Wolsinger und seine Frau Luzzi Herzog haben in ihrer künstlerischen Zusammenarbeit mit Neugier und Begeisterung nahezu alles fotografiert, ohne sich zu spezialisieren. So haben sie keinen Lebensbereich aus dem Blick verloren, was zu einem allgemeingültigen Archivbestand über das Leben und seine Facetten geführt hat. Es ist das pralle Leben, das sie – überwiegend in Schwarz/Weiß – in etwa einem halben Jahrhundert auf die Platte gebannt haben. Gibt man heute ein mit 228 Seiten vergleichsweise schmales Buch zu ihrem Lebenswerk heraus, muß es zwangsläufig eine Auswahl sein, ein Exzerpt. Dennoch zeigt die von ihrer Tochter Lea Wolgensinger und ihrem Enkel Balz Strasser mit der Kunsthistorikerin Katharina Lang herausgegebene Monografie in thematisch geordnetem Abriß das Wesentliche ihrer Arbeit. Auch einen Einblick ins Atelier- und Familienleben der Wolsingers ermöglicht der Band im abschließenden Kapiteln Geborgenheit und Inspiration und Zeugnisse gelebter Solidarität.
 

Siedlung Heiligfeld, Zürich, undatiert (ab 1955) © Baugeschichtliches Archiv Stadt Zürich

Das im Verlag Scheidegger & Spiess aufgelegte Buch öffnet mit seiner Bildauswahl Fenster in die jüngere Vergangenheit, zeigt dem Betrachter eine mit Aufmerksamkeit, ja mit Liebe betrachtete, längst von der Zeit überholte und entstellte Welt. Es sind zum Teil Bilder, in denen man mit Andacht verweilt, versunken in deren einzigartiger Stimmung. Ob es die Wander- und Reisebilder aus dem Val Roseg (1964), vom Sustenpaß, der Tremolastraße (1946) oder vom Gotthard (1947) sind, eine Impression der mittlerweile von muslimischen Fanatikern zerstörten Überreste von Palmyra (1959), zwei Stadtbilder im Schnee (1936/42), zwei Hauer nach ihrer Schicht, 1963 irgendwo in Deutschland fotografiert oder ein Korbflechter auf Elba. Auf Seite 128 (undatiert) sieht man fleißige Frauen, die in einer Fabrik sorgsam von Hand Zucker in Tüten abfüllen – heute anachronistisch, damals der Stand der Dinge.
Man schwelgt in kraftvollen Bildern betriebsamer Industrieanlagen und Bildern aus Werbung und reiner Sachfotografie: Möbel-Klassiker der 50erJahre, zeitloses Teegeschirr, Werbung für VIVI-KOLA, welkenden Klatschmohn oder Reklame, deren Zweck vergessen, deren Aussage aber zeittypisch für die 70er Jahre ist (Seite 144/45). Und immer wieder kraftvolle, archaische, ungeschminkte Menschenbilder. Amüsant die Blicke ins Theaterleben und die private Sphäre des Fotografen-Ehepaares.
 

Korbflechten, Elba, Italien, 1955 © Stadtarchiv Zürich


Mittsommermittag auf den Strassen von Càdiz, Spanien, 1950er Jahre © Stadtarchiv Zürich

Mein Favorit ist das mit feinem Gespür eingefangene Motiv auf Seite 39 (siehe oben), das einen Mittsommermittag auf der Straße von Cádiz in den 1950er Jahren zeigt – ein Wanderer, der in der flirrenden Hitze den Weg durch eine schier endlose Ebene geht, schon weit vor ihm zwei Menschen auf einem Maultier. Zeit und Raum haben keine Bedeutung, der Mensch ist klein vor der Natur ringsum.
„Mit vier Augen“ ist ein verführerisches Buch, das immer wieder aufs Neue zum Hineinblättern und Schmökern reizt, zugleich ein Zeitdokument von Wert.
 
Lea Wolgensinger befaßt sich seit 2008 intensiv mit dem Nachlaß ihres Vaters. Zusammen mit ihrem Sohn Balz Strasser hat sie die Website www.michaelwolgensinger.ch erarbeitet. Seit seiner Jugend interessiert sich Balz Strasser für das fotografische Werk seiner Großeltern und unterstützt die Aufarbeitung des Nachlasses.
 
 
Werbeaufnahme für Inserat © Fotostiftung Schweiz, Winterthur

Mit vier Augen - Das Fotoatelier Michael und Luzzi Wolgensinger
Technische Perfektion, Lebendigkeit und eine lange Zusammenarbeit: Die erste Monografie über das Fotografenpaar Michael und Luzzi Wolgensinger
Herausgegeben von Lea Wolgensinger und Balz Strasser. Mit Beiträgen von Katharina Lang und Lea Wolgensinger, sowie einer Einführung von Guido Magnaguagno
© 2019 Scheidegger & Spiess, 1. Auflage, 228 Seiten, Gebunden, 24 x 32 cm, 82 farbige und 132 s/w-Abbildungen ISBN 978-3-85881-479-1
58,- € / 65,- sFr
 
Weitere Informationen: www.scheidegger-spiess.ch