Sprechtheater mit bewegenden Höhepunkten

Jenke Nordalm inszeniert „Atlas“ von Thomas Köck

von Daniel Diekhans

v.l.: Julia Meier, Philippine Pachl, Julia Wolff, Thomas Braus - Foto © Uwe Schinkel

Sprechtheater mit bewegenden Höhepunkten
 
Wuppertaler Schauspiel überzeugt mit „Atlas“
von Thomas Köck.
 
Regie: Jenke Nordalm - Bühne und Kostüme: Vesna Hiltmann - Fotos: Uwe Schinkel - Übersetzung der Texte ins Vietnamesische: Truong Hong Quang
Besetzung: Philippine Pachl (Eine Vertragsarbeiterin, die wieder aufgetaucht ist) - Julia Wolff (Ihre Mutter, die zurückgekehrt ist) - Julia Meier (Ihre Tochter, am Flughafen) - Thomas Braus (Ein Vertragsarbeiter, ein Übersetzer)
Sprecher der vietnamesischen Texte: Vu Bich Nhu, Nguyen Dan Ha, Nguyen Tuong Long, Pham Thi Lan
 
Großmutter, Mutter, Enkelin – in „Atlas“ geht es um die Lebensgeschichten von drei Generationen und zugleich um viel mehr. Indem der junge österreichische Autor Thomas Köck diese Frauen ins Rampenlicht stellt, erzählt er auch von beinahe vergessenen Migrationsbewegungen. Da ist zum einen das Schicksal der „Boat People“ in den Siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Und da sind zum anderen die Erfahrungen der vietnamesischen Vertragsarbeiter, die ein Jahrzehnt später in den DDR kamen.
Es ist nur konsequent, daß Regisseurin Jenke Nordalm die kollektiven Erfahrungen von einem Sprechchor vortragen läßt. Der spricht mal emotionsgeladen und lautstark, dann wieder zurückgenommen und in ruhigen Atemzügen. Köcks assoziativ mäandernder Text erhält so Konturen, Nuancen. Aus dem Chor treten nacheinander die Individuen hervor. Wie bei einer Wort-Oper sind den Schauspielern Soli, Duette, Trios erlaubt. Sie berichten nicht mehr, sondern gehen ins Spiel hinein, treiben es weiter zu bewegenden Höhepunkten.
 

v.l.: Julia Meier, Julia Wolff, Thomas Braus, Philippine Pachl - Foto © Uwe Schinkel

Julia Wolff ist die Frau der ersten Generation, die beim Kentern ihres Flüchtlingsboots – irgendwann nach Ende des Vietnamkriegs – ihre Tochter aus den Augen verliert. Sie wird gerettet und landet in der Bundesrepublik Deutschland. Was sie nicht weiß: Ihre Tochter, gespielt von Philippine Pachl, hat ebenfalls überlebt. Nur muß diese nach Vietnam zurück. Erwachsen geworden, geht sie in den ostdeutschen „Bruderstaat“.
Dort verliebt sie sich in einen vietnamesischen Übersetzer – Thomas Braus macht das Ensemble komplett – und wird schwanger, was offiziell nicht „erlaubt“ ist und von den DDR-Behörden eigentlich mit Abschiebung geahndet wird. Doch diesmal rettet sie die Maueröffnung. Die kleine Familie taucht unter und führt ein Leben im sozialen Abseits. Die dritte Generation verkörpert Julia Meier. Sie macht sich – die Handlung erreicht die Gegenwart – auf die Suche nach ihrer Großmutter. Und findet sie, weit weg von Deutschland, in Saigon.
 
Köcks Stück möchte ein Gegenentwurf sein zu den Klischee-Bildern, die man sich hierzulande von den Vietnamesen und deren Geschichte(n) macht. Die Inszenierung setzt dafür Fotos ein, die unter anderem der Verein Song Hong zur Verfügung gestellt hat. Sie zeigen vor allem den deutsch-vietnamesischen Alltag, den es in der DDR auch gab. Bühnenbildnerin Vesna Hiltmann deutet das Schicksal der „Boat People“ an – mit einer schrägen Rampe, die an einen Schiffsrumpf erinnert. Auf diese Projektionsfläche wird die vietnamesische Version des Textes geworfen.
Die eigentliche Stärke des Wuppertaler „Atlas“ aber liegt im Spiel des Darstellerquartetts. Welcher Zuschauer wird etwa Julia Wolffs Monolog vergessen? Als nähmen die Erinnerungen ihr den letzten Atem, schildert sie in sich steigernden Wiederholungen das Kentern des Flüchtlingsboots und den Verlust der Tochter. Ihre Verzweiflung verwandelt sich in Zorn, wenn sie – und damit der Autor – den Bogen zum aktuellen Flüchtlingselend schlägt: „Nie wieder, haben sie gesagt, nie wieder sollen Menschen auf der Flucht ertrinken, stand unter den Bildern, und daß der Westen sich jetzt einsetzt für die auf der Flucht Ertrinkenden.“
 

v.l.: Julia Meier, Julia Wolff - Foto © Uwe Schinkel

Facettenreiche Einblicke in die Wirren der Nachwendezeit geben Pachl und Braus. Sie überzeugt als Kämpfernatur und erst recht als ironische Kommentatorin des Geschehens. Den Part des nachdenklichen Beobachters füllt Braus aus. Gemein ist ihnen das Kopfschütteln über den nach 1990 (wieder)erwachenden deutschen Nationalismus. Julia Meier schließlich stellt die Verbindung zwischen den Lebenswelten von Mutter und Großmutter her. Die Zerrissenheit, die daraus resultiert, nimmt man ihr sofort ab. So kann auch sie – dem zuweilen sperrigen Text zum Trotz – den Spannungsbogen halten.
 
„Atlas“ ist wieder am 15. März im Theater am Engelsgarten zu sehen. Es folgen Aufführungen am 4. und 19.4., am 29.5. sowie am 24.6.
 
Weitere Informationen: www.schauspiel-wuppertal.de
 
Daniel Diekhans