Gebrochene Komik, ungeschminkte Schilderung der Verhältnisse

A.L. Kennedy – „Süßer Ernst“

von Johannes Vesper

Gebrochene Komik,
ungeschminkte Schilderung
der Verhältnisse
in A.L. Kennedys „Süßer Ernst“
 
Seit Anfang Januar dieses Jahres schreibt A.L. Kennedy in der Süddeutschen Zeitung wöchentlich über das Seelenleben der Engländer, nachdem das Affentheater im Unterhaus und das desinformierte, betrogene Wahlvolk der Insel den Brexit ermöglicht hat. Darauf sei der Premierminister, den sie als schläfriges, grinsendes Gesäß wahrnimmt, auch noch stolz, schreibt sie, während im Europaparlament Tränen flossen. Sie berichtet über die Unbezahlbarkeit von Wohnung, Heizung und Mahlzeiten für Millionen Landsleute auf der Insel, über die Obdachlosigkeit zehntausender Kinder, spricht von vollständigem politischen, konstitutionellem, kulturellem Versagen Großbritanniens. Dabei wird ja auch nach dem 31.01.2020 gut die Hälfte der englischen Bevölkerung europhil bleiben oder gar zu Returnern werden?
 
In diesem Land also lebt Jon, hält eine junge Amsel in Hand, die immer noch vor Angst zittert, obwohl er sie aus einem Plastikgeflecht befreit hat und macht sich um 06.42 Uhr (1. Kapitel) Gedanken über Leben und Tod, unterscheidet gedanklich unverzeihliche, erschütternde, folgenlose, langweilige, geschmacklose Todesfälle. Szenenwechsel: Zur gleichen Zeit läuft Meg bei Sonnenaufgang an diesem Freitagmorgen im April durch die Parkanlage auf dem Hügel, von dem aus sich weite Blicke über London und seine architektonischen Highlights, diese Zeichen von Macht und Geld ergeben. Sie würde es begrüßen, „wenn all diese architektonischen Markenzeichen, die großen phallische Gesten, ganz sachgerecht umgetauft würden, der Glitzerschwanz, der Stachelschwanz, der Plattschwanz, der Schrägschwanz“ usw. usw.. Letzte Woche war sie 45 Jahre alt geworden und hatte überlegt, daß sie zu ihrer Arbeitsstelle Kuchen mitbringen müsse, was sich als nicht einfach erwies. Muß es nicht glutenfreier Schokoladenkuchen sein? Schmeckt der? Selber backen traute sie sich nicht zu. Aber billig sollte er sein. „Wer hätte gedacht, daß Kuchen so eine Aschkarte ist?“. Mit den alltäglichen Anforderungen des Lebens kommt sie kaum mehr zu recht, obwohl sie als Alkoholikerin die Selbsthilfegruppe der Anonymen Alkoholiker regelmäßig besucht und seit kurzem auch nicht mehr trinkt. Die ehemals erfolgreiche Wirtschaftsprüferin hielt Partner, Kinder und ein verfügbares Einkommen durchaus für denkbare Voraussetzungen eines glücklichen Lebens Unterdes klettert sie aber behende die soziale Abstiegsleiter hinab.
 
Unter Angabe jeweils der Urzeit wird in 33 Kapiteln einen Tag lang das Unglück der beiden zum Thema. Dabei fügt die Autorin dem erzählenden Text ihres Romans die inneren Monologe und Überlegungen der beteiligten Personen jeweils in Kursivschrift bei. Jon, knapp 60 Jahre alt, arbeitet für der Regierung ihrer Majestät, lieferte seinen Vorgesetzten Entscheidungshilfen, Material, Informationen, wohl wissend, daß die „Bande der Regierung, von der „nicht bekannt ist, was sie tut, wenn sie an der Regierung bleibt“, ständig gegen ihre eigene Bedeutungslosigkeit und drohenden Machtverlust kämpft. Er glaubt, er habe sein Leben verpaßt. Er fühlte sich bei seiner Arbeit überhaupt alles andere als wohl, vor allem wenn er Minister begrüßt, deren Handschlag ihm „wie warme Scheiße in einer Socke vorkam“. Wirklich. Die Autorin weiß, wovon sie spricht, kennt sie dieses Gefühl doch aus eigener Wahrnehmung. Minister fühlen sich genauso an wie sie sind, berichtet sie im Interview. Jons Beurteilungen von Folgen, Wirkungen, Nachhaltigkeit, Kosten und Nutzen wurden nicht für eine rationale, vernünftige Politik benötigt und verwendet, sondern sie dienten nur dazu, „politischen Ärschen den Arsch zu retten“ und seine Frustration auf das politische System zu steigern. Dabei entstand dieses Buch schon 2015. Den heutigen „Premier Popo“ hatte die Autorin damals noch gar nicht im Visier, ahnte damals aber schon all das, was sie aktuell in der Süddeutschen Zeitung schreibt.
 
Privat verfaßt John gerne Briefe und hat einen Service erfunden, der ihm Spaß bereitet. Er schreibt per Hand Briefe nach den Bedürfnissen der anspruchsvollen Frau, die anonym Nettigkeiten, Respekt, Zuneigung (keine Pornographie!) empfangen will. Auf seine Anzeige im Netz bekam er tatsächlich Anfragen handschriftlich auf Papier in sein eigens dafür eingerichtetes Postfach.
 
Meg muß zum Gynäkologen (09:36 Uhr), verspürt Angst schon beim Betreten der Krankenanstalt, erst recht, als der Frauenarzt durch sein Instrument in sie hineinstarrt. Den Schmerz der Untersuchung kann sie kaum ertragen. Später (12:48 Uhr) kümmert sie sich im Tierheim um herrenlose Hunde und liebt den Spaniel Hector, jedenfalls seine kritiklose Zuwendung und Aufmerksamkeit, wenn sie ihm zärtlich die Ohren krault. Sie hatte Jons Anzeige gelesen, ihm schüchtern geschrieben und auch seine Antworten erhalten. So hatten beide den Wunsch entwickelt, sich kennenzulernen. Keine Angst. Es handelt sich nicht um einen klassischen Liebesroman, was der Titel nahelegen könnte. In der englischen Originalfassung lautet er andersherum: „Serious Sweet“. Er erzählt die Situation moderner Menschen, zweier persönlich armen Ärsche in der Megacity London, in der sich alle modernen sozialen Probleme manifestieren. Leerstand, Billigläden, schmierige Imbißbuden, Frustration, Alkoholismus und Drogenabhängigkeit. Werden Meg und Jon hier glücklich? Es lohnt, dieser Frage lesend nachzuspüren. Für ihre gebrochene Komik, ihre ungeschminkte Schilderung der Verhältnisse, ihren Ernst beim Blick auf Psyche und Seele, für die oft wechselnden Szenen und Blickwinkel der Handlung ist Muße und Konzentration erforderlich, obwohl die Geschichte schon nach 24 Stunden um 06:42 Uhr des Folgetages auf einem Hügel oberhalb Londons endet.
 
Die Autorin wurde 1965 in Schottland geboren, schrieb Romane, Kurzgeschichten und Erzählungen. Sie wurde oft und nicht nur in England ausgezeichnet und erhielt in Deutschland 2016 den Heinrich-Heine-Preis. Auf Deutsch erschienen bisher von ihr u.a.: Das blaue Buch (Hanser 2012), Ein schlechter Sohn (Hanser E-Buch 2014).
 
A.L. Kennedy – „Süßer Ernst“
Roman - Übersetzt aus dem Englischen von Ingo Herzke und Susanne Höbel
© 2018 Carl Hanser-Verlag, 558 Seiten, gebunden - ISBN 978-3-446-26002-3
28,- €
Weitere Informationen: www.hanser-literaturverlage.de