„Ich habe Dich gewählt…“

Symphonisches Gedicht Nr. 2 op. 82 für Sprecher, Mezzosopran, Chor und großes Orchester von Lutz-Werner Hesse

von Johannes Vesper

Foto © Karl-Heinz Krauskopf

Lutz-Werner Hesse: „Ich habe Dich gewählt…“
Symphonisches Gedicht Nr. 2 op. 82 für Sprecher, Mezzosopran, Chor und großes Orchester

Uraufführung in der Historischen Stadthalle Wuppertal am 15. und 16.12.2019

+ W.A. Mozart und Benjamin Britten
 
Von Johannes Vesper
 
Sinfonieorchester Wuppertal unter Leitung von Julia Jones - Kerson Leong (Violine) - Iris Marie Sojer (Mezzosopran) – Thomas Braus (Sprecher) - Opernchor der Wuppertaler Bühnen (Marcus Baisch), Kammerchor „amici del canto“ (Dennis Hansel)
 
Mit dem 4. Sinfoniekonzert in seiner 156. Spielzeit beging am vergangenen Sonntag und Montag das Sinfonieorchester Wuppertal das 150. Jubiläum des Geburtstages von Else Lasker-Schüler, der expressionistischen Dichterin und Malerin aus Wuppertal. Dazu hatten die Wuppertaler Bühnen an den Wuppertaler Komponisten Lutz-Werner Hesse ein Auftragswerk vergeben, in dem alle drei Sparten des Theaters eine Rolle spielen sollten. Aber der Reihe nach.
 
Der Abend wurde eröffnet mit Mozarts Sinfonie Nr. 50 D-Dur KV 141a. Zunächst waren die ersten beiden Sätze als Gelegenheitswerk für den Fürstbischof zu Salzburg geplant. Mit dem später hinzu komponierten schnellen Finalsatz entstand dann eine kleine Sinfonie (9 Minuten), das muntere Werkchen eines 16-jährigen, welches bei nicht kleiner Besetzung mit einem fanfarenartig aufsteigendem Dreiklangmotiv bedeutsam und alles andere als zaghaft beginnt, im etwas elegischen 6/8 Takt des 2. Satzes fortgesetzt wird und im 3. Satz mit kräftigen Hörnern und Pauken die großen späteren Sinfonien vorausahnen läßt. Schon bei dem bei dem 16jährigen Wolfgang erweisen sich die schnellen Sechzehntel unter den hohen Streichern als heikel. Eine charmante Eröffnung dieses Konzertabends.
 
Das Violinkonzert Op. 15 von Benjamin Britten, welches er mit 26 Jahren unmittelbar vor seiner Übersiedlung in die USA geschrieben hat, geht als Jugendwerk im engeren Sinnen nicht durch. Der Komponist hielt dieses ernste Werk, welches unmittelbar vor dem Ausbruch des 2. Weltkriegs entstand, für seine beste Komposition. Zu Beginn eröffnen Solopauke und Becken im zauberhaften Pianissimo dieses vor allem auch wegen der immensen technischen Anforderungen an den Solisten selten gespielten Solokonzerts. Bei der absteigenden Violinkantilene über rhythmisierten Quinten im Orchester tankt der Solist bei großem sonoren Ton quasi Energie für das technische Feuerwerk, welches später ausbricht. Souverän und cool beherrschte aber der junge kanadische Geiger Kerson Leong mit beherrschter Körpersprache dieses auch wegen seiner Satzfolge ungewöhnliche Konzert, in welchem ein virtuoser Mittelsatz zwischen zwei langsamem ausdrucksstarken Sätzen steht. Auch ungewöhnliche Instrumentalkombinationen überraschen, wenn Piccolo zusammen mit Tuba nach hoch ersterbender Violine über leisem Pizzi zu hören sind. Ob der fulminant-furiose Mittelsatz mit Walzeranmutungen und musikantischem Marschversatz, mit hals- und fingerbrecherischen Doppelgriffen in aberwitzigem Tempo als Totentanz vor den Katastrophen des 2. Weltkrieges verstanden werden muß? Auch die Passacaglia des Finalsatzes spiegelt den Ernst des Werks tiefgründig wieder. Und das begeisterte Publikum erklatschte 2 Zugaben: Allemande aus der 4. Sonate des berühmten belgischen Geigers, Komponisten und Dirigenten Eugene Ysaye 1858-1931 sowie, entzückend, Recuerdos de la Alhambra (Gitarrenmusik in einer Bearbeitung für Violine) von Francisco Tárrega (1852-1909).
 
Dann nach der Pause des aufwendigen Konzertes, welches vom WDR aufgezeichnet wurde, die Uraufführung. Lutz-Werner Hesse (*1955) spricht von seiner Komposition als einem sinfonischen Gedicht und begibt sich damit in die Reihe der großen Orchesterlieder von Gustav Mahler und Richard Strauß, zu denen der geachtete Kritiker Eduard Hanslick 1900 schrieb: »Die neuen ›Gesänge‹ sind schwer zu klassifizieren: weder Lied noch Arie, noch dramatische Scene, haben sie von alledem etwas«. Hesse reflektiert 45 Minuten lang mit großem Orchesterapparat, mit Orgel, mit zwei Chören, Mezzosopran und Sprecher die sensible Lyrik von Else Lasker-Schüler. Bühne und Chorpodium faßten kaum die große Zahl der Musiker und Musikerinnen. Seit erst Februar 2019 arbeitete Hesse an dem gewaltigen Werk. Sechs Gedichte der Dichterin, von denen er besonders beeindruckt war und die ihm musikalisch einen dramaturgischen Werkaufbau ermöglichten, hatte er für seine Komposition ausgesucht. Dabei dient das riesige Orchester vor allem der Differenzierung des Klangs. Nur in wenigen, relativ kurzen Episoden kam die volle Lautstärke zur Geltung. In der Einführung sprach der Komponist über seine Kompositionstechnik und betonte, daß er keine zeitgenössische Musik, wie sie in den Wittener Tagen für Neue Musik oder in Donaueschingen zu hören sei, im Sinn habe. Er schreibe für ein musikinteressiertes Konzertpublikum, nicht für musikalische Spezialisten. Zu seinem neuen Werk erläuterte er, daß „Mein Tanzlied“ musikalisch und dramatisch zum Höhepunkt des erregenden Werks geworden sei. Der Komposition geht als Prolog der Vortrag des Gedichtes „Die Verscheuchte“ voran, bevor mit leisem Paukenwirbel die eigentliche Musik beginnt. Nach Ende des ergreifenden „Gebets“ am Schluß folgt noch ein Epilog, in dem Orchester, Chöre und Sopran abschließend den Gedichten nachspüren.
 
Mit gewohnt intensivem Vortrag, durch „bleiche Zeiten träumend“, begann Schauspielintendant Thomas Braus dieses Orchesterlied des 21. Jahrhunderts. Mit wunderbarer Stimme sang Iris Marie Sojer von Blumenwegen auf dunklen Gewässern, vom Mond der durch das Blut schwimmt und phasenweise in Zwiesprache mit dem Chor von der Liebe. Das Orchester baut Freude, Jubel, Ekstase auf bis zu einem lange angehaltenen, gewaltigen Orchesterakkord vollen Werks. Als die „brausende finst´re Tanzmusik“ ausbricht, als „die Seele kracht in tausend Stücken“ erfährt der Zuhörer durch die erregende Musik mit Flageolett-Glissandi, Becken und Besen im Hintergrund, Schlagwerkgeknatter, großem Blechbläsereinsatz, bewegten Streichen, mit aufwühlendem Angstgeschrei der Chöre, also unter Einsatz der gesamten musikalischen Menge und des Teufels - Thomas Braus deklamiert zum Chaos den Text- seine existentielle Bedrohung und ahnt, daß er endzeitlich im Kugelglas doch nur der Bodensatz ist.
 
Gewaltiger Applaus für das Orchester unter Julia Jones, die nach längerer Pause mal wieder im Tal aufgetreten ist, und den Riesenapparat souverän unter Kontrolle halten konnte. Applaus natürlich für die Chöre (Opernchor der Wuppertaler Bühnen (Marcus Baisch), Kammerchor „amici del canto“ (Dennis Hansel), die bei dieser Uraufführung sicher, musikalisch, sauber und stimmstark zu hören waren. Besonderer Applaus für die wunderbare Iris Marie Sojer und selbstverständlich für den Komponisten. Das Konzert wurde vom WDR aufgenommen und wird am Montag, den 20. 01.2019 vom WDR 3 übertragen. Anschließend kann es für 30 Tage im WDR 3 Konzertplayer nachgehört werden.  
 
Nachwort. Es scheint notwendig zu sein und wird hiermit angeregt, dem anscheinend zunehmend unsicheren Publikum, welches mehrfach das Konzert durch unpassenden Applaus gestört hat, Verhaltenshinweise zu geben. Auf das Ausstellen des Mobiltelefons wurde zu Beginn des Konzerts ja auch hingewiesen.
 
Folgende Gedichte von Else Lasker-Schüler wurden vertont: Die Verscheuchte (Sprecher), Das Lied meines Lebens (Mezzosopran und Chor), Vollmond (Mezzosopran und Chor), Ich liebe Dich (Mezzosopran und Chor), Heimlich zur Nacht (Mezzosopran und Chor), Mein Tanzlied (Sprecher und Chor), Gebet (Mezzosopran und Chor).
 

Lutz-Werner Hesse (Mitte) nach der Uraufführung - Foto © Karl-Heinz Krauskopf