Oldenburger Sozialisation 2

von Erwin Grosche

Foto © Harald Morsch
Oldenburger Unrecht
 
Erwin erinnerte sich noch gut daran, wie ihm einmal für die Rückfahrt ein Stück Kuchen samt dem Kuchenteller in die Hand gedrückt worden war. Der Teller war so besonders, weil auf ihm der Name des Eigentümers „Oldenburger Stadtbibliothek“ zu lesen war. Seine Bedenken, daß doch der Teller der Stadtbibliothek gehören würde, wurden damals frohen Herzens ausgeräumt und so nahm er den Kuchen samt der Erinnerung gerne an. Erst später, als ihm Oldenburg die kalte Schulter zeigte, fragte er sich, ob dieser Kuchenteller vielleicht der Tropfen gewesen war, der das Oldenburger Wasserfaß zum überlaufen gebracht hatte. Vielleicht fehlt nun bei großen Empfängen in der Stadtbibliothek genau dieser Teller und machte das Gedeck mit Kaffeetasse, Unterteller und Kuchengabel nun unvollständig. Vielleicht muß nun einer der Gäste wegen ihm und seiner Leichtgläubigkeit auf den Kuchen verzichten oder die Torte von einem Pappteller essen, auf dem nicht „Stadtbibliothek Oldenburg“ zu lesen ist. Vielleicht warf man ihm das nun vor und genau das kühlte seine Beziehung zu Oldenburg auf dieses kaum zu ertragende Maß ab. Entschuldigung, ich heiße Erwin, ich bin es gewesen.
 

 
Oldenburger Vermutungen
 
Erwin vermutete, daß er auch in Oldenburg gehaßt wurde, weil sie ihm am Telefon erzählt hatte, daß sie sich einmal zwei unterschiedliche rote Schuhe, also Einzelschuhe eines jeweils anderen Paares, angezogen hatte. Und obwohl er dieses Geheimnis nie einem anderen erzählt hatte, reichte es ihr schon, daß er nun davon wußte, daß sie sich mal zwei unterschiedlich rote Schuhe anzogen hatte, um sich von ihm erpreßt zu fühlen. Sobald er nur einen Blick auf ihre Schuhe warf oder das Thema „Schuhe“ im weitesten Sinne ansprach, schaute sie ihn böse an, als würde er gleich mit dieser Anekdote um die Ecke kommen; dabei hatte er andere Sorgen. Nicht, daß er zwei unterschiedliche Ehefrauen an verschiedene Orten wohnen hatte, die nichts voneinander wußten, aber er zog manchmal zwei unterschiedliche Strümpfe an, die sich farblich bissen und kam sich dabei wie ein Draufgänger vor. Vielleicht wurde Erwin aber auch in Oldenburg gemobbt, weil er diesem Kinderbuchillustrator, dessen Namen er sich weder merken noch aussprechen konnte, der ihm mal seine Zeichnungen geschickt hatte, gute Tips gegeben hatte, mit denen man daraus eine Geschichte schreiben konnte, aber ansonsten sich bedeckt gehalten hatte, anstatt ihm diese Geschichte zu schreiben. Er hatte ihm doch auch Verlage empfohlen, die auf Tierparabeln standen und ihn ermutigt, seinen Namen bei der Kontaktaufnahme einzubringen, weil damit seine Bewerbung gleich in einem anderen Licht erscheinen könnte. Vielleicht war auch dann mal in einem seiner späteren Bücher ein Tier aufgetaucht, und dieser Oldenburger Kinderbuchillustrator mit dem unaussprechlichen Namen dachte nun, er hätte sich aus seiner Themenkiste bedient, dabei kamen in seinem Buch, einem Osterbuch, vielleicht nur ein Küken und ein Hase vor, und das hatte ja nichts mit der Tierwelt Afrikas, die dem Oldenburger Künstler so nahe stand, zu tun. Vielleicht war man ihm auch nur in Oldenburg gram, weil er in diesem Zeitungsinterview behauptet hatte, daß man Kinder ihrer Fantasie folgen lassen sollte, und er dafür ein Beispiel anbrachte, welches man im weitesten Sinne auf Helge, einem Kursteilnehmer, beziehen konnte, der von seiner Mutter für seine Feuerwerksgeschichte getadelt worden war und sie so umschreiben mußte, daß ihr wirklich jeder Witz und jeder Charme genommen worden war. So dachte Erwin nach, warf sich dann auf sein Kissen und weinte bitterlich.
 
 
© Erwin Grosche