Diese Krankheit geht uns alle an

Großartige Umsetzung von Albert Camus‘ Roman „Die Pest“ am Schloßtheater Moers

von Anne-Kathrin Reif

In Moers wird das Publikum in Quarantäne genommen, bewacht von Ratten. Foto © Jakob Studnar
 
Diese Krankheit geht uns alle an
 
Großartige Umsetzung von Albert Camus‘ Roman „Die Pest“
am Schloßtheater Moers
 
Von Anne-Kathrin Reif
 
Ich bin nochmal davon gekommen. Gut anderthalb Stunden habe ich zusammen mit etlichen anderen Menschen in Quarantäne verbracht. Isoliert in einem weißen, grell ausgeleuchteten Zelt, bewacht von in Krankenschwesternschürzen gekleideten Ratten, die zwischenzeitlich Desinfektionsmittel versprühen und eine medizinische Flüssigkeit in Plastikbechern austeilen. Nach und nach dürfen einige Menschen das Zelt verlassen und draußen Platz nehmen. Die transparenten Wände erlauben den Blick auf die jeweils andere Seite, die dennoch unerreichbar bleibt. Wer darf gehen, wer muß bleiben? Oder ist es vielleicht sogar anders herum: Wer muß gehen, wer darf noch bleiben – und damit weiter hoffen, am Leben zu bleiben und geheilt zu werden, während es für die anderen schon zu spät ist? Hin wie her: Es konnte jeden treffen, daß die Ratten mit einem in schwarzen Gummihandschuhen steckenden Finger auf einen zeigten und ihn hinausgeleiteten. Und dann kommen sie tatsächlich auf mich zu. Aber sie zeigen nicht auf mich, sondern führen den an meiner Seite sitzenden Liebsten weg. Man lacht nervös auf, es ist ja nur ein Spiel. Aber ich hab’ immer schon zu viel Phantasie gehabt, und mir krampft sich für einen Moment das Herz zusammen. Der Schmerz der Trennung und der Ungewißheit bleibt für mich körperlich spürbar, so lange der Platz neben mir leer ist. Am Ende war ich unter den wenigen letzten, die noch im Zelt zurückgeblieben waren. Wie gesagt: Ich bin nochmal davon gekommen. Die Seitenwände des Zeltes werden schließlich hochgerollt und die Menschen wieder vereint. Puh.
 

Wer geht, wer bleibt? Die Ratten entscheiden. Foto © Jakob Studnar

Ulrich Greb hat Albert Camus’ Roman Die Pest für das Schloßtheater Moers dramatisiert und macht das Publikum zum Teil der Inszenierung. Ein grandioser Schachzug, denn genau darum geht es: „Diese Krankheit geht uns alle an“, wie es im Roman heißt – und gerade die Trennung und das Getrenntsein ist eines seiner zentralen Themen. Mit ihren Rattenköpfen verkörpern die sechs Spieler die todbringenden Nagetiere und schaffen eine Atmosphäre permanenter Bedrohung – unterstützt durch die subtil eindringliche, flirrende, brummende Soundkulisse von Emilio Gordoa, Improviser in Residence beim Moers-Festival. Alle sechs sind aber auch die Chronisten der Geschichte, welche abwechselnd die Ereignisse wortgetreu und in genau dem nüchternen Ton wiedergeben, wie der Chronist der Pest in Camus’ Roman sie aufgeschrieben hat. Hinzu kommt ein siebter in Gestalt einer Handpuppe, die dem Text nach zwar die Hauptfigur des Dr. Rieux verkörpert, zugleich allerdings Camus ausgesprochen ähnlich sieht.
 
Ein stimmiger Soundtrack begleitet die Geschehnisse
 
Die nüchterne Erzählung der Ereignisse, wie die Pest die ahnungslosen Menschen überrascht, wie die Zahl der Toten ansteigt, wie versucht wird, der Krankheit mittels eines Serums Einhalt zu gebieten und so fort, wird immer wieder auf eindringliche Weise unterbrochen: Immer, wenn ein Spieler die Rattenmaske abnimmt und als einer der Protagonisten des Romans in eine Szene eintaucht. Schlüsselszenen allesamt: so wie die Stunde der Freundschaft zwischen Rieux und Tarrou, als sie gemeinsam nachts ein Bad im Meer nehmen; wie die harsche Predigt des Pater Paneloux; wie das qualvolle Sterben des kleinen Sohnes von Untersuchungsrichter Othon. Aber jedesmal, wenn der Spieler beginnt, ganz in der Figur aufzugehen, wenn die Emotionen hochkochen und sich schmerzlich spürbar auf die Zuschauer übertragen, ruft eine der Ratten gewissermaßen zur Ordnung: „Stop! Ein Chronist hat nur die Aufgabe, zu sagen, es ist geschehen.“ Ein Wechselbad, das durchgängig für Spannung sorgt – auch dies mit stimmigem „Soundtrack“. Mal begleiten Spieluhrklänge kurze Augenblicke der Erleichterung, mal die von Camus zitierte Jazznummer „St. James Infirmery“.
 

Matthias Heße mit Handpuppe Dr. Rieux/Camus notiert die Tageszahl der Pestopfer. Foto © Jakob Studnar

Alles, was geschieht und gesprochen wird, ist sehr nah am Text, ohne den Text schlicht zu bebildern. Klar ist allerdings auch, daß eine 90-Minuten-Aufführung einiges an Strichen von der Romanvorlage verlangt. Dem fällt z.B. die Figur des Profiteurs der Pest, Cottard, zum Opfer, und leider auch eine der wichtigsten Figuren der Vorlage, nämlich der kleine Angestellte Joseph Grand, der die Peststatistik führt und ansonsten an seinem Roman arbeitet (in dem eine Amazone auf einer Fuchsstute durch den Bois de Bologne reitet…). Wer meine Arbeit zu Camus kennt, wird sich nicht wundern, daß ich das Thema der Liebe, das auch am Ende des Romans ein zentrales Thema ist, gerade am Schluß etwas zu schwach akzentuiert fand. Gestolpert bin ich zunächst auch darüber, daß das hoffnungsvolle Fazit fehlt, welches Rieux, der Arzt und Chronist der Pest, trotz aller Verheerungen am Ende zieht: Man könne in Zeiten der Heimsuchung lernen, daß es am Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gibt. – Aber es ist stimmig, daß dieser tröstliche Gedanke am Ende dieser Inszenierung ausbleibt. Denn ob es tatsächlich so ist, das ist angesichts unseres Verhaltens gegenüber heutigen Plagen, Heimsuchungen und Herausforderungen längst nicht ausgemacht.
 
Irgendwann nimmt die Zahl der Pestopfer ab, und die Krankheit verschwindet aus der Stadt ebenso unvorhersehbar, wie sie gekommen ist. Die Zeltwände werden hochgerollt und die Menschen wieder vereint, sie könnten sich glücklich in die Arme fallen wie die Menschen am Ende von Camus’ Roman, und ein bißchen was von dieser Erleichterung und diesem Glück ist tatsächlich spürbar. Man war in dieser Inszenierung eben mehr als bloß Zuschauer. Empfehlung: unbedingt sehenswert.
 
***
 
Natürlich sind noch die zu nennen, die gleichermaßen zum Gelingen des Ganzen beitragen. Das sind neben Ulrich Greb (Regie) die Mitwirkenden: Patrick Dollas, Lena Entezami, Matthias Heße, Roman Mucha, Elisa Reining und Frank Wickermann. Sie meistern großartig das Wechselspiel zwischen den emotionslos berichtenden Chronisten und dem Eintauchen in die verschiedenen Charaktere, vermitteln Stimmungen oftmals allein über den wechselnden, harten, nüchternen, weichen, zärtlichen Klang der Stimme. Tragend für die ganze Inszenierung ist das Bühnenkonzept von Birgit Angele. Zum stimmigen Gesamteindruck gehört unbedingt auch die Soundkulisse von Emilo Gordoa. Die Camus-Handpuppe hat Puppenbauer Patrick Maillard gefertigt; Joost van den Branden vom belgischen Theater Tieret hat die Schauspieler im Umgang damit gecoacht.
 
• Die nächsten Termine: 12., 13. Oktober, 23., 24. November, 6., 7. Dezember 2019. Aufführungsdauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause. Infos und Karten: 0 28 41 / 88 34 110
Weitere Informationen: www.schlosstheater-moers.de


Eine Übernahme aus „365 Tage Camus“ mit freundlicher Erlaubnis
Redaktion: Frank Becker