Zweieinhalb Stunden Kino-Genuß - und keine Minute zu viel

„Der Distelfink“ von John Crowley

von Renate Wagner

Der Distelfink
(The Goldfinch - USA 2019)

Regie: John Crowley
Mit Oakes Fegley / Ansel Elgort, Finn Wolfhard / Aneurin Barnard, Nicole Kidman, Luke Wilson u.a.
 
Möglicherweise ist es in diesem Fall ein Vorteil, wenn man – zugegeben – den Roman von Donna Tart nicht gelesen hat. Das macht die Geschichte des „Distelfinks“ wirklich spannend, wenn es auch ein paar logische Brüche in der Handlung gibt, über die man stolpert. Aber man hat als Kinobesucher ja in tausenden Stunden vor Leinwänden schon eine gewisse Bereitschaft entwickelt, auch Unglaubliches hinzunehmen – mit Kopfschütteln vielleicht, aber doch gutmütig. Vor allem, wenn es den Figuren „da oben“ gelingt, unsere volle Aufmerksamkeit und bestenfalls auch noch unsere Anteilnahme zu gewinnen.
Das gelingt Theo Decker mühelos, in zweierlei Gestalt: Und man kann sich gut vorstellen, dass aus diesem ernsthaften und traurigen 13jährigen (Oakes Fegley) dann dieser etwas unsichere Anfang-20er wird (Ansel Elgort), denn wir begegnen ihm auf zwei Ebenen seines Lebens, die durcheinander gewirbelt werden. Der junge Theo, der ein schweres Schicksal hat – was eigentlich in der Kunstgalerie passiert ist, als sie durch eine Explosion zerstört wurde und Theos Mutter starb, erfährt man erst ganz am Ende, so sehr wird die Geschichte stückweise und ohne stringente Chronologie erzählt. (Und gleich zu Beginn: Warum Theo aus dem Staub und Chaos des zerstörten Museumssaal das alte holländische Gemälde „Der Distelfink“ mitnimmt – ganz logisch erscheint es nicht… Das Gemälde von Carel Fabritius ist übrigens keine Erfindung, das gibt es wirklich. )
  
Jung Theo hat Glück, als er in die Familie von Samantha Barbour kommt (Nicole Kidman verströmt menschliche Milde, aber sie tut es glaubhaft – und ist im übrigen die Einzige, die dem Film Stargewicht gibt). Die Barbours sind New Yorker Upper Class, wo Theo freundlich behandelt wird und zumindest in dem superklugen kleinen Andy (Ryan Foust) einen Freund findet. Und dann hat Jung Theo mehr als Pech – als sein nutzloser Vater (Luke Wilson) auftaucht, ein drittklassiger Schauspieler, der den Sohn aus seiner Welt reißt und in geistiges und reales Proletariat mitnimmt.
Es passiert so viel, wahrscheinlich verzeichnen wenige Menschen so entscheidende Begegnungen wie Jung Theo, aber zwei weitere führen in sein Erwachsenenleben. Erst Kunsthändler Hobie (Jeffrey Wright), dessen sterbender Geschäftspartner Theo im Staub des zerstörten Museums das Bild in die Hand gedrückt hat. Und vor allem Boris.
Das ist natürlich jener Hauch von Klischee, Roman, Kintopp, der nicht zu leugnen ist, aber Regisseur John Crowley führt die Geschichte ebenso geschickt wie sensibel von einer Erzählebene zur anderen. Und man ist bereit, vieles zu glauben. Warum sollte Jung Theo, einsam in seiner Prolo-Siedling nicht mit dem ukrainischen Nachbarjungen Freundschaft schließen und prompt durch ihn in die so genannte „schlechte Gesellschaft“ geraten? Zumal der junge Boris (Finn Wolfhard) hinreißend ist, mit einem Charisma des fröhlichen Außenseitertums, das der ältere Boris (Aneurin Barnard) später nicht in gleichem Ausmaß mitbringt.
 
Natürlich ist alles überdramatisch – der Vater, der den Sohn um sein Geld betrügen will und bei einem Autounfall stirbt, nachdem ihm das nicht gelungen ist; Theo, der zu Hobie flüchtet und dort die nächsten Jahre bleibt; das Wiederfinden der Barbour-Familie und der jungen Frauen, die er als junge Mädchen gekannt hat. Herz, Schmerz und einiges geht schief, vor allem als Boris wieder auftaucht und die annähernd schiefe Bahn, auf der Theo als Kunsthändler balanciert, zu einer Rutsche in die Tiefe wird. Apropos Glaubwürdigkeit: Wenn es rund um das „Distelfink“-Gemälde zu einem Showdown mit Gangstern kommt, ist es absolut unglaubwürdig, daß Theo und Boris das unbeschädigt überstehen.
Was soll’s? Man ist immer mit voller Anteilnahme bei Theo, auch wenn seine Aktionen nicht ganz astrein sind (Boris hat ihm beigebracht, wie man aus dem Druck des Lebens in Drogen flieht), man spürt sein gutes Herz und seine zarte Seele, man weiß, was in seinem Kopf vorgeht und fühlt seinen Schmerz. Kitschig? Selbst wenn. Irgendwann ist das kein Kriterium, wenn man sich von einer Geschichte gefangen nehmen läßt. Wenn man sich aus dem Kinosessel erhebt, sind zweieinhalb Stunden vergangen, und man hat es nicht gemerkt. Keine Minute zu viel, die man mit Theo verbracht hat.
 
 

Renate Wagner