Streitquartett

„Der Gott des Gemetzels“ von Yasmina Reza im TiC-Theater

von Frank Becker

Streitquartett
 
Disharmonisches Konzert für 4 Solisten
 
„Der Gott des Gemetzels“ (Le dieu de carnage) von Yasmina Reza
 
Inszenierung: Thomas Gimbel -  Bühne: Jan Bauerdick & Benedikt Fiebig – Kostüme: Mariola Kopczynski - Regieassistenz: Larissa Ernst -  Licht: Tina Hünninghaus

Besetzung: Veronika Holle: Sabine Henke – Michael Holle: Alexander Bangen - Annette Rheil: Elisabeth Wahle – Arne Rheil: Sebastian Freund
 
Zwei Ehepaare treffen sich mit der Absicht, eine aus dem Ruder geratene Auseinandersetzung ihrer 11jährigen Söhne und deren Folgen im Gespräch aufzuarbeiten. Was ist geschehen? Die Jungs haben sich in einem Park in die Wolle gekriegt, der eine hat dem anderen „bewaffnet“ mit einem Stock zwei Zähne aus- bzw. angeschlagen. Schlimme Sache. Aber man ist ja kultiviert und kommt auf dem Boden der Versicherungsverhandlung zusammen. Doch die Luft flirrt von Anfang an vor unterdrückter Aggressivität und falscher Höflichkeit, von der scheinbaren Gastfreundlichkeit hier bis zur vorgeblichen Bewunderung der Tischdekoration dort. Der Ort des Dramas ist das Wohnzimmer der Holles, Ausdruck bürgerlicher Norm. Ein begrenzter Raum, der Distanz kaum zuläßt.
 
Es geht in der Konsequenz um die „Verteidigung ihrer Ehre“, für die sind ja eigentlich die Männer zuständig. Ein wohl immer wiederkehrender Vorgang. Überall. Die französische Erfolgsautorin Yasmina Reza (Kunst) hat das Thema 2006 zeitgemäß auf- und ausgebaut: Diesmal mischen auch die Frauen mit. Und das in recht dominanter Stellung - ja im Grunde übernehmen sie die Position, die früher einmal den Kerlen  vorbehalten war. Die Männer werden mehr oder weniger zu Puffern zwischen den Frauen-Fronten, hin und wieder als Stichwort-Geber oder Bollwerk vorgeschoben. Im Grunde aber interessiert es sie einen Scheißdreck. Sie haben sich doch als Jungs auch geprügelt und schwärmen unisono von ihren „Banden“ zur Kinderzeit. 
Zwei Ehepaare mit schnell aufbrechender oberflächlicher Einigkeit treffen hier aufeinander. Nach kurzem, vorsichtigem Abschätzen quellen Unzufriedenheit, Unsicherheit, Streitlust, ja offene Feindseligkeit aus den seelischen Wunden hervor, die sie schon lange mit sich schleppen. Alle Fehler, Mängel, Schwächen der vier Charaktere werden offenbart, vorgeführt und einer bösen Lächerlichkeit preisgegeben. Und doch zeigt die Autorin ein gewisses Mitleid: Mit der Rodentiaphobie des scheinbar weichen aber zumindest in Hamsterfragen gefühllos erscheinenden Michael (brillant im steten Seitenwechsel: Alexander Bangen), dem durch peinliche Rechthaberei kaschierten Minderwertigkeitskomplex und dem Alkoholproblem Veronikas (spitzig aggressiv: Sabine Henke), der Telefonabhängigkeit des überheblich gewissenlosen Workaholic Arne (mühelos überzeugend: Sebastian Freund) und der zum Schutz aufgebauten Überheblichkeit der gleichermaßen wütenden wie unsicheren Annette (biestig explosiv: Elisabeth Wahle).
 
Thomas Gimbel hat das vor rund 15 Jahren von allen Bühnen landauf, landab gespielte Stück, das weniger Komödie als bürgerliches Trauerspiel ist, für das TiC-Theater mit Erfolg als dramatisches Kammerspiel inszeniert. Ihm und den vier intensiv geforderten Charakterdarstellern - die Besetzung ist perfekt - gelingt die Gratwanderung zwischen Tragödie und Farce. Ein gewisser Einfluß von Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolfe?“ (inklusive Suff) kann nicht übersehen werden, was kein Makel ist – im Gegenteil, die Nähe zu dem Klassiker adelt die Inszenierung.
Irgendwann läßt jeder die Maske fallen. Es sind die Attentate auf „wichtige“ Dinge, die Wahrheiten lostreten: Die aufgesetzte Dominanz Annettes hält dem immer höher köchelnden Druck nicht stand, ihr Faß läuft über, als ihr eigener Mann sie abqualifiziert. Gekippt wird auch das scheinbar gefestigte Ego Arnes, als seine nervtötende Mobiltelefoniererei mit der Versenkung seines heiligen Smartphones in der Tulpenvase endet. Der Kommentar Annettes: „Männer hängen dermaßen an ihrem Zubehör“ brachte einen der immer wieder auch die Spannung des Publikums lösenden Lacher. Veronika zerstört sich durch ihre Pedanterie und Rechthaberei selbst: Die Attacke  gegen ihr Tulpen-Arrangement setzt einer Reihe von Zwischenfällen die Krone auf. Am besten hält sich noch Michael. Doch die wiederholte Anklage des Hamster-Mordes läßt schließlich auch seine Dämme brechen – weg ist die Larve des Friedfertigen.
 
Yasmina Rezas Raffinement liegt in der ständigen Verschiebung der Konstellationen, Parteinahmen und Loyalitäten. Aus dem Zerbrechen ehelich definierter Parteien entstehen neue und ambivalente kameradschaftliche oder geschlechtsspezifische Fronten. Beim Rum verbrüdern sich die Kerle als große Jungs, und beim Rum verschwistern sich die „Damen“ als männerverachtende Weiber. Alkohol ist zwar keine Lösung, aber um mit Sissi Perlinger zu sprechen: „Kein Alkohol ist auch keine Lösung.“ Das amüsiert, offenbart bekannte und vertraute gesellschaftliche und partnerschaftliche Mechanismen, das erschreckt und beruhigt zugleich. Alle sind wie du, du bist wie alle. Yasmina Reza ist mit diesem Streitquartett ein gültiger Coup gelungen. Dem Ensemble ebenso.
 
Weitere Informationen:  www.tic-theater.de