Aus dem Herzen der Finsternis

Stefan Klein – „Boko Haram: Terror und Trauma“

von Frank Becker

Aus dem Herzen der Finsternis
 
Boko Haram und die entführten Mädchen von Chibok
 
Im April 2014 entführte die gefürchtete, von Abubakar Shekau geführte grausame islamische Terrororganisation Boko Haram 276 Schülerinnen aus der Government Secondary School in dem Ort Chibok in er Provinz Borno im Nordosten Nigerias. Die zwischen 15 und 18 Jahre alten Mädchen, bis auf eine Handvoll Muslimas sämtlich Christinnen, wurden als Geiseln, als „Tauschmaterial“ genommen, um u.a. inhaftierte Terroristen freizupressen.
Boko Haram, was in etwa heißt „westliche Bildung ist Sünde“, hatte bis dahin in der von ihr kontrollierten Provinz Borno bereits ca. 2.000 Lehrer umgebracht und fast 1.400 Schulen zerstört. Auch die Government Secondary School wird nach der Entführung der Mädchen und Plünderung in Brand gesetzt.
     Als die nigerianische Regierung unter ihrem Präsidenten Goodluck Jonathan nicht reagierte, ja eher versuchte, das aufsehenerregende Verbrechen unter den Teppich zu kehren, gründete sich unter den Protagonistinnen Obiagely (Oby) Ezekwesili, Hadiza Bala Usman und Maryam Uwais die Aktion #bringbackourgirls, die von da an täglich öffentlich in der Hauptstadt Abuja demonstrierte und für Aufmerksamkeit in aller Welt sorgte.
 
     Die verschleppten Mädchen wurden jahrelang unter unvorstellbaren Bedingungen wie Sklavinnen gefangen gehalten, zum Koran-Unterricht und Tragen der Hijab gezwungen, täglich indoktriniert, ununterbrochen geprügelt, gedemütigt und gequält. Sie litten unter Mangelernährung, fehlender Körperhygiene und Krankheiten, mußten Enthauptungen mit ansehen, hungern und dürsten. Zehn Mädchen starben durch Bombenangriffe des Nigerianischen Militärs, das keine Rücksicht auf die Geiseln nahm, etliche unterwarfen sich dem ständigen Druck, konvertierten und heirateten ihre Entführer. Doch gelang auch einigen bei der Entführung und während der Geiselhaft die Flucht, sogar drei der Konvertierten mit ihren Babys. Und schließlich, nach mehr als drei Jahren – mittlerweile war der ebenso wie sein Vorgänger untätige und genauso ein Schwätzer Muhammadu Buhari Präsident Nigerias -  konnten in zwei Abschnitten 106 weitere Mädchen durch Vermittlung des neutralen Zannah Mustapha und den Austausch gegen Boko Haram-Kämpfer freikommen. Ein glückliches Ende? Keineswegs. Denn nach der Freilassung der 106 bleiben noch immer mehr als 100 Mädchen vermißt bzw. befinden sich in den Händen Boko Harams.
 
     Der Reporter Stephan Klein hat sich auf die Spuren der Entführung, ihrer Geschichte und  Vorgeschichte begeben, er hat die politischen und sozialen Verhältnisse des riesigen und zerrissenen Staates Nigeria recherchiert, und er hat mit einigen der freigelassenen Mädchen, die jetzt schon junge Frauen waren, ebenso mit Zeitzeugen alles Seiten sprechen können.
Er hat es klug vermieden, einen Sensationsbericht zu schreiben, sondern beeindruckend sachlich und einfühlsam die Abläufe zusammengefaßt, was erschütternd genug ist. Man erfährt, daß sich alle Lehrer der Government Secondary School am Tag vor der Entführung aus dem Staub gemacht, ihre Schülerinnen verraten hatten. Man erfährt, daß es Warnungen gegeben hatte, die nicht beachtet wurden, ja das Militär sich „routinemäßig“ kurz zuvor aus der Region zurückgezogen hatte. Man erfährt, daß die Polizei in Abuja anstatt gegen die Entführer massiv gegen die Demonstrantinnen von #bringbackourgirls vorgegangen ist.
Stephan Klein ermöglicht auch einen hoch informativen Einblick hinter die Kulissen Schwarzafrikas im Allgemeinen und Nigerias im Besonderen und seiner macht-, geld- und titelbesessenen Nomenklatura. Er macht deutlich, daß Unsummen von Hilfsgeldern  - auch solche für die Befreiung der Mädchen - aus der westlichen Welt in den Taschen von Präsidenten und Generälen landen, bevor sich die Verwaltungs- und Militärhierarchie den Rest unter den Nagel reißt.
Wir lernen, daß im Vergleich mit Deutschland flächenmäßig dreimal so großen Nigeria mit seinen 240 Ethnien und 514 verschiedene Sprachen und Idiomen längst nicht jeder der mehr als 190 Millionen Bürger den anderen oder seine Verwaltung versteht, weil eben nicht alle Haussa, Englisch, Igbo oder Yoruba sprechen.
 
     Das Erstaunlichste an der ganzen Geschichte aber ist, daß die überwiegende Zahl der Mädchen während der ganzen Zeit des Leides an ihrem christlichen Glauben festhielten, sich damit sogar gegenüber ihren Entführern behaupten konnten.
Es ist kaum möglich, das Leid der von ihren Familien getrennten Kinder zu erfassen, ebenso die Qual der von ihrer Regierung verlassenen und stets im Ungewissen gelassenen Eltern mit den richtigen Worten zu beschreiben. Die Aufarbeitung der physischen Schäden war in wenigen Monaten geschehen, die psychischen Folgen aber werden den Betroffenen aus Trauma ihr Leben lang bleiben.
Stephan Klein hat mit „Boko Haram: Terror und Trauma“ ein für unser Afrika- und Islam-Verständnis sehr wichtiges Buch geschrieben, das ebenso wie der hier vor einigen Jahren vorgestellte Roman „Zeitverlust“ von Andreas Kirchgäßner deutlich macht, daß wir Mitteleuropäer Schwarzafrika wohl kaum je richtig verstehen können werden. Zu den Hintergründen von Boko Haram erfährt man einiges, doch auch hier gilt, daß wir mit unseren westlichen Denkansätzen dieser schrecklichen islamischen Terrororganisation nie wirklich nahe kommen können.
Eine dringende Lese-Empfehlung der Musenblätter. Ab heute im Buchhandel.
N.B.: Ein Namens-, Sach- und Ortsverzeichnis mit erklärenden Bemerkungen würde einer Neuauflage gut tun.
 
Stefan Klein – „Boko Haram: Terror und Trauma“
Die entführten Mädchen von Chibok erzählen
 
© 2019 Verlag Antje Kunstmann, 240 Seiten, Klappenbroschur -  ISBN: 978-3-95614-324-3
20,00 € (D)
Weitere Informationen: www.kunstmann.de