Wie die Welt von Innen ihre Form erhält

Der Wille des Menschen

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Wie die Welt von innen ihre Form erhält

Von Ernst Peter Fischer
 

Der Wille des Menschen
 
Der Wille des Menschen ist sein Himmelreich“, wie mein Vater zu sagen pflegte, wenn es ihm wieder einmal nicht möglich war, seine Söhne an Vorhaben zu hindern, die ihm nicht paßten. Heute weiß ich, daß der Satz ursprünglich von Johann Jakob Wilhelm Heise stammt, der zur Goethezeit gelebt und den Dichterfürsten auch gekannt hat. Zu den großen Einsichten der romantischen Jahre, in denen Heise lebte, gehört die Unterscheidung zwischen Tatsachen und Werten, wobei Menschen das Faktische außen finden – Dinge, über die man sich einigen kann –, während sie das für sie Wert- und Belangvolle – Dinge, die ihnen etwas bedeuten – aus ihrem Innen schöpfen. Werte werden nicht entdeckt, sondern kreativ erschaffen, und hier kommt „der göttliche Funke, der in meinem Inneren glimmt“ zum Vorschein, wie es Isaiah Berlin formuliert, wenn er „Die Revolution der Romantik“ beschreibt, in deren Verlauf die Natur „etwas [wird], dem ich meinen Willen aufzwinge, eine Sache, der ich eine Form gebe“, „weil ich will“. Dieser Wille – ihm begegnet man auf dem Weg von und nach innen auf allen Ebenen. Er steckt in der Energie im Atom, er zeigt sich im Drang des Lebens zu seiner genetischen Entwicklung, er findet sich im kollektiven Unbewußten der Menschen, das dafür sorgt, daß man „nicht nicht wissen wollen“ kann, wie Robert Musil geschrieben hat. Und wenn die Menschen ihre kreative Qualität ausleben und ihrer Existenz durch schöpferische Impulse ausfüllen können, dann lohnt es sich wahrlich, vom Himmelreich zu sprechen, wobei nicht vergessen werden darf, daß die Gesellschaft auch das Gegenstück kennt, nämlich Menschen, deren Willen unzureichend und schwach ist, was sie ängstlich und depressiv machen kann und aus dem erhofften Himmelreich die Vorhölle werden läßt, in der sie psychologische Hilfe benötigen oder eine psychotherapeutische Behandlung bekommen sollten, um den endgültigen Absturz in die Hölle zu vermeiden.
 
Oben wurde der Satz zitiert, „Die Eigenschaften des Geistigen entsprechen haargenau denjenigen Charakteristika, die die äußerst rätselhaften und wunderlichen Erscheinungen der Quantenwelt auszeichnen“, was bedeutet, daß die Begründung einer Psychotherapie – anders als durch ihren Erfolg – mit Begriffen aus der Welt der Quantenmechanik versucht werden sollte, wobei mit den Quanten die Sprünge – unstetigen Übergänge – zwischen atomaren Energiezuständen gemeint sind. Im Rahmen der Quantenphysik tauchen anti-intuitive Qualitäten von den materiellen Bewohnern der Innenwelt auf, zum Beispiel die, daß Elementarteilchen – Protonen und Neutronen – sich als verschränkt erweisen, was bedeutet, sie als räumlich getrennt existierende Einheiten doch einen gemeinsamen Zustand annehmen können, was Einstein als „spukhafte Fernwirkung“ abtun wollte und ablehnte. Doch die physikalische Wirklichkeit stellt kein Wunschkonzert dar. Die Verschränkung räumlich separater Partikel ist nachweisbar, und damit steht fest, daß die atomare Welt ein Ganzes bildet, das gar keine Teile hat. Sie tauchen erst durch die Namen auf, mit der über die Welt gesprochen wird, bei deren Einführung sich noch niemand Sorgen um eine Verschränkung machte und man mehr Wert auf die Genauigkeit der Unterscheidung von Einzelphänomenen legte. Die Verschränkung kann man auch Quantenkohärenz nennen, die im Leben verloren gehen kann, bei dem es warm zugehen muß. Oftmals wird die Meinung vertreten, daß sich das Bewußtsein nur als quantenmechanisches Phänomen verstehen und das Gehirn als Quantencomputer erklären läßt. Vermutlich läßt sich sowohl der Ursprung des Lebens als auch sein energetisch wichtigster Prozess, die Photosynthese, nur durch Quantenkohärenz erfassen. Damit ist zum Beispiel konkret gemeint, daß die Sonnenenergie in den pflanzlichen Zellen einzelne Elektronen aus ihren Zuständen löst, was diese munteren Kerlchen befähigt, mit dem Loch, das sie dabei zurücklassen, eine Quantenpaar zu bilden, das Physiker als Exziton bezeichnen. In seiner Quantenkonfiguration ist solch ein Elektron-Loch-Paar in der Lage, nicht nur einen, sondern alle möglichen anderen Wege zu nehmen, an deren Ende ein sogenanntes Reaktionszentrum wartet, um die Energie zu sammeln und zu speichern, die das Leben braucht.
 
Von der Photosynthese und ihren Elektron-Loch-Paaren ist es ein weiter Weg zu der Psychotherapie, auf die jetzt abschließend eingegangen werden soll. Aus der breiten Palette des Angebots habe ich mir das Konzept der Familienaufstellung ausgesucht, das unter anderem von der Familie Hellinger praktiziert wird, die dafür auch einen theoretischen Hintergrund anbietet, und zwar unter dem Markenzeichen Hellinger®Sciencia. Sie meinen damit die „die Wissenschaft von unseren Beziehungen in allen Bereichen des Lebens“, die wie die Wirklichkeit selbst „in Bewegung“ ist.
 
Oben wurde gesagt, daß in der Quantenwelt nur ein Ganzes existiert, und wer diesen Gedanken auf die Sphäre des Menschen überträgt, kann sagen, daß dessen Existenz einer unauftrennbaren Potenzialität entspringt, „die Züge eines holistischen Geistes trägt“, wie Hans-Peter Dürr einmal geschrieben hat. In diesem Sinne lassen sich Menschen als Individuen definieren, die über energetische Kraftfelder miteinander in Wechselwirkung treten und somit verschränkt werden, wobei Dürr noch umfassender vorschlägt, sich die Wirklichkeit als immaterielles Beziehungsgefüge vorzustellen, als „Erwartungsfeld“ für künftig mögliche energetisch-materielle Manifestationen.
 
Hellinger®Sciencia bemüht sich ebenfalls um „nachvollziehbare Einsichten in die Ordnungen und Unordnungen in unseren Beziehungen“ und meint, darüber hinaus noch eine andere Dimension erreicht und geöffnet zu haben, „eine geistige Dimension.“ Sie besteht in der Einsicht, „alles, was da ist, bewegt sich nicht aus sich selbst. Es wird von außen bewegt“, wobei dieser Gedanke zwar in der abendländischen Tradition bekannt ist, offenbar aber nicht zu dem paßt, was die bisher angestellten naturwissenschaftlichen Überlegungen nahelegen. In der antiken und der mittelalterlichen Philosophie hat es Vorstellungen von „unbewegten Bewegern“ oder einem „Primum mobile“ gegeben, und außen oder von oben wirken, und vielleicht sind solche Denkfiguren dann sinnvoll einzusetzen, wenn der natürliche Wille eines Menschen keinen Weg nach außen ins Leben findet und erst durch einen externen Anstoß auf die richtige Bahn geleitet werden kann. Mit dem Konzept der Verschränkung könnte der Versuch unternommen werden, die Erfolge der weniger theoretisch verhandelten und mehr als erfolgreiche Praxis eingesetzten Familienaufstellung verstehbar zu machen.
 
Bei diesen Konstellationen, die mit Gruppen von zehn bis zwanzig Personen durchgeführt werden, stellt ein freiwilliger und um Hilfe bittender Protagonist „je nach Ausgangslage und der Fragestellung sein inneres Bild seiner Gegenwarts- oder Herkunftsfamilie auf“, wobei im konkreten Ablauf für manche Familienmitglieder Stellvertreter ausgewählt und zueinander in Beziehung gebracht werden. „Das Familienstellen gründet auf der Vermutung, daß innerlich-grundlegende Beziehungen auch innerlich räumlich abgespeichert wirken“ (Wikipedia), was zwar nicht trivial ist, was aber einer wissenschaftlichen Erklärung zugänglich wird, wenn das Bewußtsein als Quantenkohärenz auf seine Verschränkungsmöglichkeiten hin betrachtet wird. Man kann – wie oben erwähnt – von einem menschlichen Erwartungsfeld sprechen, das durch eine Änderung der jeweiligen Konstellation, die der Gruppentherapeut interaktiv mit den Stellvertretern durchführt, beeinflußt wird. Dieses Erwartungsfeld enthält zum einen sicher die äußeren energetischen Möglichkeiten der Zukunft eines Beteiligten, es muß aber zugleich auch dem Willen des Protagonisten entsprechen, ohne den ein gesunder Mensch seinen Platz in der Konstellation nicht finden kann. Anders ausgedrückt, ein seelisch kranker Mensch muß zu seinem Willen finden, der ihm die Zukunft so zeigt, wie sie ist, nämlich prinzipiell offen. Sie darf ihm nicht verschlossen erscheinen und ihm keine Aussicht auf Bewegung des eigenen Ichs gewähren. Das Geheimnis der Gesundheit besteht in der Möglichkeit, seine eigene Stärke aufzurufen und damit bei der Bildung seiner Existenz dem eigenen Willen nachzugeben. Man will und kann sich immer neu finden und erfinden. Es gibt immer wieder neue Möglichkeiten. Die Schöpfung ist nicht abgeschlossen, sie ereignet sich in jedem Augenblick neu, was den selbst schöpferischen Menschen teilhaben läßt an der kosmischen Energie, der die anhaltende Bildung – Schöpfung – der Welt zu verdanken ist. Im Grunde bilden die Dinge und die Menschen ein eng gespanntes Beziehungsgewebe, und weil in ihm alles als miteinander zusammenhängend zu betrachten ist und miteinander im Einklang existiert, kann man diese Situation, die Menschen als unmittelbare Empathie erleben, ruhig als Liebe bezeichnen.
 
 
 
© 2018 Ernst Peter Fischer