Wie die Welt von innen ihre Form erhält

Innerlichkeit

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Wie die Welt von innen ihre Form erhält

Von Ernst Peter Fischer
 

Innerlichkeit
 
Der Weg in das Innere der Atome hat die Menschen an seinem Ziel erkennen lassen, daß es dort keine dinghafte Materie, also keine Realität mehr gibt, sondern daß man da einen geistigen Raum betritt und sich einem die Wirklichkeit als Möglichkeit (Potentialität) offenbart. Im Zentrum der Dinge gibt es sie selbst nicht mehr, sondern nur noch Formen und Gestalten und das Gefallen an ihrer Symmetrie. Auf diese Weise muß die Welt im tiefsten Innen stets kreativ sein, indem sie das Mögliche in das Wirkliche verwandelt, natürlich unter dem Einsatz von Energie, die als unzerstörbare Grundgegebenheit der Welt das Feld liefert, auf dem auch das Spiel des Lebens stattfinden kann. Der ungarische Physiker Ervin László hat einmal davon gesprochen, daß „ein nichtmaterielles Energiemeer den kosmischen Raum“ erfüllt. Und wenn solch eine Einschätzung natürlich keinem Ingenieur hilft, der abschätzen will, wieviel Energie eine Maschine braucht, um eine gewünschte Arbeit zu verrichten, so darf doch nicht übersehen werden, daß mit Energie mehr als eine berechenbare Größe gemeint ist, die ja überall vorhanden ist und dank ihrer Wandelbarkeit wirken kann, nicht nur im kosmischen Außen, sondern auch – und möglicherweise auf besondere Weise – im und aus dem atomaren und lebendigen Innen.
 
Auf jeden Fall hat ja auch der Weg ins Innere der Organismen und ihrer Zellen erkennen lassen, daß den Suchenden dort zuletzt ein vergleichbares Beziehungsgefüge entgegentritt, ein immaterielles Feld, in dem sich der energische Drang, der spürbare Wille zeigt, die Manifestationen in der Welt zu verwirklichen, die als Möglichkeiten irgendwo tief im Leben stecken. Selbst der hartnäckigste Materialist oder ein reduktionistisch orientierter Physiker werden irgendwann zugeben müssen, daß sich im Innen der realen Dinge, im Zentrum der Atome ebenso wie im Innenraum des Lebens, etwas Irreales, etwas Spirituelles zeigt, mit dessen Vorhandensein die Wirklichkeit aufhört, etwas Fundamentales, Unverrückbares zu sein, und mit der sich im Zentrum der Welt eine vibrierende Quelle voller Lebendigkeit, voller Lebensimpulse zeigt, die nach außen drängt und das will, was Philosophen Dasein nennen. Dasein heißt „am Ziel sein“, und das heißt für den Menschen, bei sich zu sein und sein Geheimnis spüren.
 
Wenn sich die Aufmerksamkeit mehr nach innen richtet und von der Außenwelt entfernt, sprechen die Kenner der Kultur von der Innerlichkeit, die sie zudem gerne mit einem Attribut versehen und dann als deutsche Innerlichkeit beschreiben. Der Ausdruck taucht den Lexika zufolge zum ersten Mal 1779 auf, als der Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock ein Wort für das sucht, was er die „eigentliche innerste Beschaffenheit der Sache“ meint. Innerlichkeit meint in der Philosophie vor allem die Gedanken und Emotionen eines Subjektes, das etwa in der Reformation versuchte, mit seinem Gott intim – intimus – zu werden, um so zur Wahrheit zu gelangen. Diese Innerlichkeit ist vielfach kritisiert worden – Beispiele finden sich bei Friedrich Nietzsche und Thomas Mann –, aber mit ihr kann man mehr erfassen als innere Empfindungen und den Rückzug aus einer umkämpften Welt mit ihren Niederlagen. Während die Aufklärung noch meinte, ein Erkennen sei möglich vor allem durch die Anschauung der Dinge, denen sich die Begriffe schon zugesellen würden, fragten die Romantiker, die den Aufklärern folgten, vor allem nach den seelischen Innenbildern, die auf die äußeren Wahrnehmungen passen und mit ihnen zur Deckung kommen mußten, um das zu generieren, was man Erkenntnis nennt.
 
Merkwürdigerweise ist dieser Gedanke viele Jahrhunderte alt und schon zu Beginn der Neuzeit erwähnt worden. Von den innen in der Seele vorhandenen Gegebenheiten hat nämlich bereits Johannes Kepler gesprochen, als er sich Gedanken über die Frage machte, wie es ihm im frühen 17. Jahrhundert gelungen sein konnte, Gesetze für die Planetenbewegung am Himmel aufzustellen. Kepler schreibt dazu:
„Erkennen heißt, das äußerlich Wahrgenommene mit den inneren Ideen zusammenzubringen und ihre Übereinstimmung zu beurteilen“, was auf ihn so etwas wie „das Erwachen aus einem Schlaf“ darstellt. „Wie nämlich das uns außen Begegnende uns erinnern macht an das, was wir vorher wußten, so locken die Sinneserfahrungen, wenn sie erkannt werden, die intellektuellen und innen vorhandenen Gegebenheiten hervor, so daß sie dann in der Seele aufleuchten, während sie vorher wie verschleiert als Potential dort verborgen waren.“
Außen sieht Kepler die Geometrie in der Welt, zum Beispiel die Ellipsen, auf denen sich die Planeten bewegen, und die Kugeln, nach denen diese Himmelskörper gebaut sind, und da der Astronom im 17. Jahrhundert so denkt, wie der Philosoph Plato zweitausend Jahre vor ihm, glaubt Kepler an den Wert von inneren Ideen, und ihm scheint, „wie wenn die Geometrie gleichsam der Archetypus der Welt wäre“ – „sic ut geometria sit quidam quasi mundi archetypus“, wie es im lateinischen Original heißt.
 
Das Wort Archetypus, das Kepler hier einsetzt und mit dem er ein Urbild aus der menschlichen Seele meint, taucht nach romantischen Zwischenstufen in der Psychologie von Carl Gustav Jung auf, der im 20. Jahrhundert damit innere Bilder der menschlichen Psyche bezeichnet, die beim Vorgang des Erkennens mit wahrgenommenen äußeren Objekten und ihrem Verhalten in Resonanz treten oder zur Deckung kommen müssen. C.G. Jung und seine Kollegen können den Nachweis führen, „daß jedes Verstehen ein langwieriger Prozeß ist, der lange vor der rationalen Formulierbarkeit des Bewußtseinsinhaltes durch Prozesse im Unbewußten eingeleitet wird“, wie der Physiker Wolfgang Pauli 1952 in einem Band geschrieben hat, in dem er gemeinsam mit C.G. Jung das Verhältnis von „Naturerklärung und Psyche“ erkundet. Pauli, der selbst verstehen will, wie er und seine Kollegen – vornehmlich Werner Heisenberg – den Weg zu den Atomen finden konnten, gefällt zum einen das Konzept eines kollektiven Unbewußten, mit dem Jung arbeitet und in dem er innere Grundformen der menschlichen Vorstellungskraft angesiedelt sieht, und dem Physiker gefällt zum zweiten, daß mit diesem Blick auf die Archetypen „die Aufmerksamkeit wieder auf die vorbewußte, archaische Stufe der Erkenntnis gelenkt“ wird, die so etwas wie ein Innen darstellt. „Auf dieser Stufe“, so Pauli weiter, „sind an Stelle von klaren Begriffen Bilder mit starkem emotionalem Gehalt vorhanden, die nicht gedacht, sondern gleichsam malend geschaut werden.“
 
Das Denken und Erkennen als ein malendes Schauen – schöner kann man kaum die Kreativität von Menschen beschreiben, die von der Kunst her gedacht wird, wie es sich auch beim Verständnis der Genexpression anbietet oder sogar bei Heisenbergs Erschaffung der Atome und ihres Inneren helfen kann – wobei der Schleier, den er aufhob, auch bei Kepler angesprochen wird, wenn er davon spricht, daß die inneren Bilder „wie verschleiert als Potential“ in der Seele verborgen liegen, bevor sie dort aufleuchten.
 
 
© 2018 Ernst Peter Fischer