In die Seele seiner Zuhörer gespielt

„Der Klavierspieler vom Gare du Nord“ - von Ludovic Bernard

von Johannes Vesper

B
Der Klavierspieler vom Gare du Nord
Au bout des doigts
(Frankreich 2018)
 
Regie: Ludovic Bernard
Mit: Lambert Wilson, Kristin Scott Thomas, Jules Benchetrit, Karidja Touré u.a.m.
 
Im Gedränge der durch den Gare du Nord hastenden Passanten spielt an dem öffentlichen Klavier dort ein junger Mann mit zupackender Virtuosität das 2. Präludium c-Moll aus dem Wohltemperierten Klavier von Johann Sebastian Bach. Er wird beobachtet von einem fasziniert lauschenden Passanten. So beginnt die Geschichte dieses Films, in der die Umkehr des Bonmots unseres ehemaligen Innenminister Schily thematisiert wird. „Wer Musikschulen schließt, gefährdet die öffentliche Sicherheit“. Mathieu Malinski (Jules Benchetrit) lebt in einer Banlieue, zieht mit seinen Freunden umher, schreckt vor Schlägereien und auch einem gelegentlichen Einbruch nicht zurück. Sein Zuhörer Pierre Geitner (Lambert Wilson) ist der Leiter des berühmten Conservatoire de Paris. Daß die beiden sich in der Bahnhofshalle treffen, bleibt zunächst folgenlos, da Mathieu vor plötzlich auftauchenden Polizisten fliehen muß. Dem Professor des Konservatoriums gelingt es nach Wochen, ihn erneut am Bahnhofsklavier aufzuspüren und ihm seine Karte zu überreichen. Als Mathieu wegen eines Einbruchs vor Gericht zu gemeinnütziger Arbeit verurteilt werden soll, gelingt es Pierre Geithner, an den sich der hochbegabte Junge aus schwierigsten sozialen Verhältnissen endlich doch gewandt hat, daß er diese Strafe als Reinigungskraft im Konservatorium ableisten kann. Damit nimmt die Künstlerbiographie ihren Lauf.
 
Mathieu hatte als Kind von seinem alten Klavierlehrer schon viel vom Klavierspiel mitbekommen und seine Seele an das Klavier verloren. Er möge immer sein Herz auf die 88 Klaviertasten übertragen, hatte ihm der gütige und verständnisvolle Klavierlehrer eingeimpft. Am Konservatorium erhält er jetzt Unterricht von einer Gräfin (Kristin Scott Thomas), mit der er bei seiner Herkunft aus dem Prekariat kaum zurechtkommt. Er fühlt sich im Konservatorium fehl am Platze, findet den akademischen Unterricht seiner arroganten Dozentin öde, langweilig und gibt mehrfach auf. Nicht so Paul Geitner, der ihn gegen Widerstände im Kollegium zum internationalen Klavierwettbewerb anmeldet, sodaß der Hochbegabte zeitweise wider Willen den 1. Satz aus Rachmaninoffs 2. Klavierkonzert, den sich nur brillante Konzertpianisten zumuten können, in sechs Monaten üben bzw. einstudieren muß. Mathieu verliebt sich in eine junge schwarze Kommilitonin (Karidja Touré), der die Musik und ihr Cello familiär schon in die Wiege gelegt worden sind, und probiert bei inniger Umarmung auf ihrer nackten Haut Fingersätze wie ehemals Goethe in Rom bei seinen Geliebten Versmaße. Aber dank dieser Cellistin, die an ihn glaubt, dank der kühleren Emotionalität seiner zunächst unnahbar erscheinenden Klavierlehrerin und dank der Überzeugung des Chefs, einen Ausnahmepianisten gefunden zu haben, bleibt der ehemalige Kleinkriminelle bei der Stange.
Wie klassische Musik Seelenerschütterung und Selbsterfahrung bewirken kann, wird hier anrührend, zeitweise echt gefühlsbetont und nicht unsentimental deutlich gemacht. Klassische Musik ist kein Luxus, hat im Kern mit bürgerlichem Zeitvertreib oder Selbstbeweihräucherung nichts gemein. Und man grübelt darüber, wie recht Schily mit seiner Sentenz (s.o.) wohl hatte und welche Chancen die Musik dem bietet, der sich auf sie einläßt. Der Klassikliebhaber bekommt bei diesem Musikdrama jedenfalls ein Gefühl dafür, wie eines Pianisten Emotionen und Schicksal sein Klavierspiel bestimmen und wie er sich in die Seele seiner Zuhörer spielt.
 
Vor 13 Jahren gab es bereits einen Film ganz ähnlichen Themas, der den Einfluß des Klaviers auf eine junge Strafgefangene und Mörderin zeigte (siehe „4 Minuten“ mit Hanna Herzsprung und Ursula Bleibtreu). Und literarisch gehört die Autobiographie des drogenabhängigen, suizidalen Konzertpianisten und Psychopathen James Rhodes („Der Klang der Wut“, Nagel & Kimche Verlag, 315 S. 2016), den die „Musik am Leben hielt“, in die Reihe der Werke, die den Einfluß von Musik auf Psyche, Leben bzw. Biografie zeigen.