Die Lüge

von Peter Altenberg

Peter Altenberg
Die Lüge
 
Eine der schrecklichsten Verlogenheiten des kleinen Lebens ist es, daß so viele in liebenswürdig-korrekter Art fragen: „Ist es gestattet, an Ihrem Tische Platz zu nehmen? Stört man nicht!?“
     Welche verlogene Gemeinheit, eine solche perfid-jesuitische Frage zu stellen, nachdem man es doch sicher weiß, daß niemand daraufhin den Mut hat, zu antworten: „Nein!“
     Möge doch jeder in seiner Vereinsamung bleiben, bis man ihn „liebevoll“ ruft! Wie viele Feindselige drängen sich scheinbar freundschaftlichst heran, weil man mit einer Dame sitzt, auf die sie „fliegen“! Eine horrende, feige Gemeinheit. Schändliche Wölfe im Schafspelze. Wenn sie ihre Beute „gerissen“ haben, verschwinden sie! Niemand weiß edle Distanz zu halten, weder im Gespräch noch in Handlungen.
     Eine falsche, feige Gutmütigkeit beherrscht alles, vom liebenswürdigen, scheinbar erfreuten Lächeln der Begrüßung an, bis in die ernsteren Komplikationen hinein, wo diese Maske fällt! „Wie geht es Ihnen?!“ Jeder denkt dabei: Hoffentlich schlecht! Das Herz traut sich nirgends hervor; es keucht, erstickt unter Lügebergen! Niemand kann „er selbst sein“, schaut sich daher ängstlich um, nach dem Sukkurs der andern!
Heldentum: „Ist es erlaubt, an Ihrem Tische Platz zu nehmen?!“ 
„Nein!“
Dann geht der feige, geprügelte Hund aber hin und rächt sich!
 
Peter Altenberg