Eine Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs

„Ausgeflogen“ von Lisa Azuelos

von Renate Wagner

Ausgeflogen
(Mon bébé)
Frankreich/Belgien 2019

Regie: Lisa Azuelos
Mit: Sandrine Kiberlain, Thaïs Alessandrin, Mickaël Lumière, Yvan Attal u.a.
 
Bisher hatte die Regisseurin Lisa Azuelos (53) einen großen Erfolg vorzuweisen: „LOL“ aus dem Jahr 2008 erzählte eine Mutter- und Tochter- und Generationen-Geschichte, die zu einem der großen Hits des französischen Kinos wurde (mit Hollywood-Nachverfilmung, die dann wie üblich nicht viel brachte). Ihre Arbeiten danach fanden nicht viel Beachtung, also hat sie sich erneut dem Mutter-Tochter-Thema zugewendet. Diesmal steht Mama im Mittelpunkt – und das ist, wer will es ihr verdenken, eine Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs – und eine Glanzrolle für Sandrine Kiberlain.
 
Bedenkt man, wie viele Filme schon versucht haben, „ehrlicherweise“ zu zeigen, daß die lieben Kinder auch eine Plage sind, so stellt die Regisseurin mit Héloïse eine Frau in den Mittelpunkt, die zwar auch einen Beruf hat, dank vieler Freundinnen nicht isoliert ist, gelegentlich einem One-Night-Stand nicht abgeneigt – aber Zentrum ihres Lebens befinden sich ihre drei Kinder. Von denen ist aber, solange die Handlung in der Gegenwart spielt, nur noch eine zuhause: Tochter Jade, die vor dem Abitur (Matura, wie wir sagen) steht, aber schon eine Zusage für eine französische Universität in Kanada erhalten hat, sobald sie bestanden hat (da gibt es noch kleinere Schwierigkeiten, aber am Ende … ja, alles okay).
Für Héloïse stellt sich nun das Problem, daß bald auch das letzte Kind aus dem Haus ist – der Sohn (Victor Belmondo – Jean-Pauls Enkel…) kommt nur noch selten vorbei, die ältere Tochter (Camille Claris) auch, so wirklich total herzlich ist die Beziehung nicht. Auch nicht zu Jade (Thaïs Alessandrin, nebenbei die Tochter der Regisseurin), die zwar im Grunde nett, aber oft auch ziemlich patzig zur Mama ist, wie halt heutzutage üblich. Regisseurin Lisa Azuelos zeichnet die Unsicherheit einer Elterngeneration, die gar nicht mehr wagt, ihren Kindern irgendetwas vorzugeben (wobei Héloïse nur tief schluckt, wenn sie vor die vollendete Tatsache gestellt wird, daß der Freund der Tochter – Mickaël Lumière – heute bei ihr übernachtet) – und nur demütig bittet, aus deren Leben nicht ausgeschlossen zu werden. Sicher ein aktuelles Problem. Und eines, das tausend Facetten hat.
 
Der Film ist unendlich unruhig, weil ununterbrochen Rückblenden eingeschnitten werden – und da geht es dann ziemlich sentimental zu, wenn Héloïse sich bis zu seligen Geburtsszenen zurückträumt. Etwas unangenehmer wird es, wenn die Eltern (Yvan Attal als Gatte, bald Ex-Gatte) am Küchentisch sitzen und ihren drei Kleinkindern klar machen, daß sie sich trennen werden. Alle Kinder bleiben bei der Mutter (grimmige Telefonate in der Gegenwart mit dem Vater zeigen, daß der ältere Mann mit der neuen Freundin wieder ein Kind bekommt) – und so ist Héloïse die von ihrer Zeit und ihren Emotionen her die schwer belastete alleinerziehende Mutter, eine Frau unserer Zeit, die wir dennoch lieben und bewundern sollen, obwohl sie uns mit ihrer Hektik eigentlich ziemlich auf die Nerven geht. Wobei niemand sagen wird, daß Sandrine Kiberlain das nicht wunderbar hinbekommt… aber ein „Role Model“ ist sie wohl nicht.
Noch ein typisches Element unserer Tage bringt die Regisseurin mit der Fixiertheit auf das SmartPhone ein – Héloïse nervt sogar junge Leute mit ihrem dauernden Drang, alles zu fotografieren und zu filmen, um sich ihre Erinnerungen zu bewahren (was natürlich auch den Nebeneffekt hat, uns auf die Vergänglichkeit alles Seienden, auf das Verfließen des Lebens hinzuweisen). Darum wird es auch zur „Katastrophe“, als sie ihr Handy verliert – und zur Posse, wenn der Sohn, der es mit irgendeinem App orten kann, dem guten Stück nachfährt. Wenn man sich im Trubel der Ereignisse nicht irrt, dann geht dieser Handlungsstrang aber im turbulenten Auf und Auf der Geschichte verloren.
 
Viel ist in diesen Film gestopft, heute und einst, der alte Vater von Héloïse steht vor einer Operation und sie kümmert sich sehr um ihn (hier wird der alte „Generationenvertrag“, den die meisten schon vergessen haben, wieder beschworen) – oder wenn Mama irgendwann in der Vergangenheit mit einer Bekanntschaft nächtlich abgetaucht ist und beim Heimkehren feststellt (sie verliert offenbar gerne Sachen), daß sie den Wohnungsschlüssel verschmissen hat. Der kleine Sohn im Schlafanzug wundert sich sehr, warum er Mama irgendwann in der Nacht die Tür aufmachen muß.
Es ist französisches Alltags- und Familienleben, das man hier sieht, nicht beschönigt, wenn auch von Zeit zu Zeit mit einer gewissen Neigung zur Schnulze präsentiert, sobald es um die gleichermaßen engagierte und doch deutlich überforderte Héloïse geht. (Daß ihr die Tochter einmal sagt, sie würde sicher nicht heiraten und Kinder bekommen, kann man nachfühlen.)
Am Ende hat unsere Heldin die Tochter zum Flugzeug gebracht und geht mit starrer Miene allein zurück in ihr Leben. So richtig bange ist einem als Kinozuschauer um sie nicht, wenn man an ihre lebhaften Freundinnen denkt – und an ihre mehrfach gezeigte Bereitschaft, der nächsten männlichen Verführung nachzugeben. Vielleicht wird in Zukunft alles leichter und sie kommt von ihrer enervierenden Hochtourigkeit einmal herunter?
 
 
Renate Wagner