Beckfelds Briefe

An Sepp Herberger

von Hermann Beckfeld

© 1958 W. Fischer Verlag Göttingen
Auch im Fußball müssen Wunder hart erarbeitet werden. Trainerlegende Sepp Herberger, der Vater des deutschen Endspielsieges von 1954 in der Schweiz, hat sich viel von seinem Wissen angelesen – in den Regalen seines Wohnzimmers stapelten sich mehr als 1500 Bücher, sogar die Hauptschriften von Mao.
 
Lieber Sepp Herberger,
was bleibt in Erinnerung von einem Menschen, der vor 42 Jahren, am 28. April 1977, gestorben ist; dessen Leben dominiert wird von einer Meisterleistung, von einem einzigen fürwahr historischen Ereignis, dem Wunder von Bern?
     Realität und großes Kino spielen Doppelpass, und schon haben wir die Bilder vor Augen. Sie und Ihr Ziehsohn, der geniale Fritz Walter, vertieft ins Gespräch vor einem WM-Spiel, beide im Trainingsanzug, das DFB-Symbol auf der Brust; Helmut Rahn, unser Boss, der aus dem Hintergrund schießen müßte und schießt; Sie im durchnäßten Mantel auf den Schultern unserer Helden nach dem 3:2 gegen die Ungarn; die Spieler, die aus den Fenstern des Triumphzuges auf die überfüllten Bahnsteige herabschauen, stolz und verwundert: Was haben wir mit einem Fußballsieg nur angerichtet in unserem Deutschland, das so viel verloren hat?
Sepp Herberger, der kleine Mann aus Waldhof-Mannheim, der Trainerfuchs und geniale Taktiker, der Motivator und Mahner, der Psychologe und Vordenker; einer, der die Nähe suchte und Abstand hielt: „Sie, Helmut, haben mir heute ein Tor gegen die Jugoslawen versprochen.“ Helmut aus Altenessen schoß sein Tor und gab die Vorlage für meine Lieblingsszene in der mehrteiligen TV-Dokumentation zum Ende Ihrer Karriere. Da machen Sie uns vor, wie der unverwüstliche Rahn nach seinem Tor an der Außenlinie entlanglief: die Trainerbank lässig im Blick, stolz wie Oskar, mit geschwellter Brust, strotzend vor Selbstbewußtsein. Und wir sehen einen losgelösten Josef Sepp Herberger als Schauspieler; herrlich natürlich, mit seinem ganz eigenen dezenten Humor, mit der ehrlichen Zuneigung zu Spielern, die das ausführen, was er von ihnen erwartet.
     Sie kommen aus dem vorvorigen Jahrhundert. Sie haben sich hochgekämpft, haben Rückschläge verdaut, nicht immer alles richtig gemacht. Als Ihr Vater, ein Tagelöhner, starb, durften Sie nicht zum Gymnasium; es fehlte das Schulgeld. Sie waren Hilfsarbeiter, Spieler, Trainer und Truppenbetreuer im Krieg, wurden im Entnazifizierungsverfahren als Mitläufer eingestuft, mußten 500 Reichsmark als Sühne zahlen. Der Rest ist Geschichte, Ihre Geschichte. Und unsere auch.
     Ich habe den Vorabdruck des neuen Buches von Manuel Neukirchner gelesen. Der Chef des Deutschen Fußballmuseums beschreibt in „Herbergers Welt der Bücher“ Ihre unbekannten Seiten. In den Regalen Ihres Wohnzimmers stapelten sich mehr als 1500 Bände. Romane, wissenschaftliche Abhandlungen von Psychologen, Werke von Carnegie und Machiavelli, sogar die Hauptschriften von Mao. Sie haben sich Ihre Weisheiten rausgeschrieben, wichtige Stellen unterstrichen, Erkenntnisse formuliert: „Je mehr ich weiß, desto größer werden meine Zweifel.“ „Ich war ein Besessener, einer, der nach der letzten Wahrheit aus war.“ „Ich war ein Suchender, wollte lernen.“
 
Lieber Sepp Herberger,
Sie haben uns mehr zurückgelassen als die Erinnerung an den 4. Juli 1954. Und nicht nur Ihre Sprüche wie „Der Ball ist rund“ und „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“ sind unsterblich. Sie haben uns gelehrt, daß hinter Wundern harte Arbeit steckt.    
 
 
Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags Henselowsky Boschmann.
„Beckfelds Briefe“ erscheinen jeden Samstag im Wochenendmagazin der Ruhr Nachrichten.
„Beckfelds Briefe“ gibt es auch in Buchform 

Redaktion: Frank Becker