Märchenhafte goldene Dächer und Küken

Zur Herkunft zweier aparter Motive in Grimms Märchen

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Märchenhafte goldene Dächer und Küken
 
Zur Herkunft zweier aparter Motive in Grimms Märchen
  
Von Heinz Rölleke
 
In den Grimm'schen Märchen begegnet ein immer gleiches Handlungsmoment geradezu stereotyp mehrfach: Nachdem ein Bräutigam infolge einer Intrige seine Braut vergessen und eine andere gewählt hat, macht sich die Verlassene auf eine Suchwanderung, in deren Verlauf ihr drei Wundergaben zuteil werden. Damit besticht sie ihre Konkurrentin, sie dreimal bei ihrem Bräutigam schlafen zu lassen (und ihn schließlich zu erlösen). In der Regel sind es Kleider, deren Attraktion die falsche Braut nicht widerstehen kann (so in den Grimm'schen Märchen Nr. 113, 127, 192 oder 195). Ein einziger Text präsentiert eine andere Wundergabe: Im Märchen Nr. 88 „Das singende, springende Löweneckerchen“ erlangt die Braut auf ihrer Suchwanderung vom Mond „ein Ei“ mit der Gebrauchsanweisung „das zerbrich, wenn du in großer Not bist.“ Zunächst hatte sie die falsche Braut mit dem ihr von der Sonne in einem Kästchen geschenkten Kleid bestochen - ohne zu ihrem Zweck zu gelangen, da man dem Prinzen einen starken Schlaftrunk gegeben hatte.
 
            „Und als auch das nichts geholfen hatte, ward sie traurig, ging hinaus auf eine Wiese, setze sich da hin und weinte. Und wie sie so saß, da fiel ihr das Ei noch ein, das ihr der Mond gegeben hatte; sie schlug es auf, da kam eine Glucke heraus mit zwölf Küchlein ganz von Gold, die liefen herum und piepten und krochen der Alten wieder unter die Flügel, so daß nichts Schöneres auf der Welt zu sehen war.“
 
Mittels dieses Wunderwerks erlangt sie eine zweite Nacht bei ihrem Bräutigam, den sie nun endgültig erlösen kann.
 
Die lebendige Goldglucke mit ihren Küken ist ein nur einmal in den „Kinder- und Hausmärchen“ begegnendes Motiv. In der europäischen Märchenüberlieferung findet es sich allerdings ein weiteres Mal an prominenter Stelle: Im ersten Kapitel zu Basiles „Pentamerone“ aus dem Jahr 1634 heißt es in einer Passage, in der von ähnlichen Zaubergaben wie bei Grimm die Rede ist:
 
            „Da machte Zaza die Kastanie auf, und eine Glucke mit zwölf Küken kam heraus.“
 
Kunsthistorikern ist eine geradezu klassische Verkörperung dieses seltsamen Motivs in scheinbar ganz anderen Zusammenhängen vertraut, das wohl auch schon im Mittelalter einen hohen Bekanntheitsgrad hatte. Im Domschatz von Monza findet sich ein goldener Tafelaufsatz, der aus einer Glucke und sieben Küken besteht.
 
Clemens Brentano hat dieses einmalige Kunstwerk wohl aus einer Abbildung bzw. detaillierten Beschreibung gekannt, die er 1838 für die Spätfassung seines Kunstmärchens „Gockel, Hinkel und Gackeleia“ heranzog; in einer frühen Szene des Märchens entdeckt man das mit dem Goldschatz von Monza identische Kunstwerk:
 
            „Das Bild einer Gluckhenne, auf dem Neste sitzend mit ausgebreiteten Flügeln und über Hühnchen brütend, die hie und da die Köpfchen hervorstreckten, alles von Gold und Silber, auf das natürlichste kunstreich ausgearbeitet; die Augen waren alle von Edelsteinen und die Kämme von Rubinen!“
 
Der auktoriale Erzähler identifiziert das Gebilde als ein „Toilettengeschenk, das Salomo selbst der Königin von Saba gegeben.“ Bezeichnenderweise soll es in der Geschichte der Gockel-Grafen bei allen Hochzeitszeremonien eine Rolle gespielt haben. Auch die Zahl der Küken wird in einer Widmungsinschrift des Künstlers erwähnt:
 
            „Dieses Necessaire, vorstellend das Siebengestirn als eine Gluckhenne mit sechs Küchlein für Ihre Majestät die Königin.“
 
In Übereinstimmung mit Brentanos Text: Die Goldene Glucke von Monza hat ebenfalls mit einer hochzeitlichen Verbindungen zu tun (die ja auch noch im Grimm'schen Märchen erwähnt wird, wenn die Glucke ihre Funktion erfüllt hat). Der Tafelaufsatz wurde anlässlich der ehelichen Verbindung des Langobardenkönigs Authari mit der bayrischen Prinzessin Theodolinda (Theudelinde) im Jahr 589 gestiftet. Die in Gold mit feinstem Gefieder gebildeten Küken sollten auf die Zahl der langobardischen Grafschaften verweisen. Diese Hochzeit ist ein Zeichen für den regen (Kultur)Austausch zwischen dem mittelalterlichen Herzogtum Bayern und dem langobardischen Königreich. Dieser intensivierte sich nochmals unter dem bedeutendsten Langobardenkönig Liutprand, der von 712 bis 744 herrschte und schließlich in seinem Regierungssitz Pavia im hintersten rechten Pfeiler der Basilika San Pietro in ciel d'oro bestattet wurde, sowie durch die Personalunion, in der Karl der Große seit seiner Einnahme von Pavia über das Franken- und Langobardenreich im Jahr 774 herrschte.
 
Die Sueben, die als letzter Zug der spätantiken Völkerwanderung in der Mitte des 6. Jahrhunderts aus ihrer Heimat an der unteren Elbe in das Gebiet zwischen Lago Maggiore und Gardasee in die unmittelbare Nachbarschaft mit den dort schon länger ansässigen Goten gekommen waren, wurden von den Italienern „Langobardi“ (Langbärte) genannt. Sie entwickelten eine eigene Sprache, die allerdings kaum schriftlich überliefert ist und um das Jahr 1000 vom Italienischen abgelöst wurde. Daß diese Völkerwanderung auch für einen schon früheren kulturellen Transfer etwa mündlicher Literaturtraditionen gesorgt hat, läßt sich vermuten, aber nicht beweisen. Wohl ist ein solcher relativ reger Austausch seit der wechselseitigen bayrischen bzw. fränkischen Beziehungen mit Oberitalien nachweisbar, wie die Übernahme des langobardischen Reichssymbols, des Goldes von Monza, in die italienische und deutsche Märchentradition erweist. Eine weitere Parallele läßt sich durch das berühmte althochdeutsche „Hildebrandslied“ verdeutlichen. Das um das Jahr 800 im Kloster Fulda niedergeschriebene Heldenlied aus dem Sagenkreis um Dietrich von Bern (Theoderich von Verona) geht nachweislich auf eine Dichtung in langobardischer Sprache zurück.
 
Im Blick auf diese Gegebenheiten läßt sich eine weitere langobardische Spur in Grimms Märchen vermuten. Die Grabkirche des Langobardenkönigs Liutprand in Pavia war im Mittelalter durch ihre vergoldete Decke und die entsprechende Bezeichnung „Ciel d'oro“ berühmt. Sie scheint eine Spur in der mündlichen europäischen Märchentradition hinterlassen zu haben, denn im Grimm'schen Märchen „Der treue Johannes“ findet sich unvermittelt ein seltsames Eingangsmotiv. Der alte König fühlt sich dem Tod nahe und empfiehlt seinen Sohn dem Schutz eines treuen Dieners;
 
            „Nach meinem Tode sollst du ihm das ganze Schloß zeigen […], aber die letzte Kammer in dem langen Gange sollst du ihm nicht zeigen, worin das Bild der Königstochter vom goldenen Dache verborgen steht […]; davor sollst du ihn hüten.“
 
Wie immer im Märchen betritt der Prinz natürlich die ihm verbotene Kammer, und er sieht „das Bildnis der Jungfrau, das so herrlich war und von Gold und Edelsteinen glänzte.“ So kommt es zur Begegnung mit der Königstochter in einem weit entfernten Land:
 
            „Dann fuhren sie über das Meer und fuhren so lange, bis sie zu der Stadt kamen, worin die Königstochter vom goldenen Dach wohnte.“
 
Die für ein europäisches Märchen höchst ungewöhnliche und auf den ersten Blick rätselhafte Benennung „Goldenes Dach“ mag auch durch das im Jahr 1500 in Innsbruck errichtete „Goldene Dacherl“ in der europäischen Märchentradition ihren Platz gefunden haben: Wie die Glucke von Monza, so stehen die Kirche von Pavia und der Innsbrucker Prunkerker für Kostbares schlechthin.
 
Man kann nur staunen, wie zwei hessische Erzählerinnen zu Anfang des 19. Jahrhunderts die Brüder Grimm in Kassel durch ihre Märchen mit den aus der mittelalterlichen Lombardei bekannten Motiven vom Goldenen Dach und der Goldenen Glucke bekannt machen konnten; zugleich darf man sich der engen Verflechtungen der europäischen Literaturtraditionen seit Jahrhunderten uneingeschränkt erfreuen, wie sie nicht nur im „Hildebrandslied“, sondern gerade auch im Märchen gegeben sind.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2019

 Redaktion: Frank Becker