Der Tod

von Erwin Grosche

Foto © Harald Morsch

Der Tod
 
War es beruhigend, daß Lydia den Tod als Gesprächsthema entdeckt hatte? Doktor Staub wunderte sich und sagte: „Das schauerlichste Übel also, der Tod, geht uns nichts an; denn solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr." Er bemerkte den verliebten Blick von Lydia, und beschloß zu verheimlichen, daß er diesen Gedanken bei Epikur gefunden hatte. Epikur war tot, dem konnte es egal sein.
 
Mein Gott, wenn ich jetzt daran denke, daß wir alle noch sterben müssen. Wann sollen wir das denn auch noch machen? Und dann müssen wir uns ja alle noch gegenseitig auf Beerdigungen besuchen. „Bis uns der Streuselkuchen scheidet“, sage ich immer. Da kann man sich doch gleich ein Zehnerpack Beileidskarten von Amazon holen, die gibt es dann günstiger und haben von den anderen Trauernden immerhin vier von fünf möglichen Sternen bekommen. Obwohl bei manchen, wenn sie die Karte geöffnet hatten „die Spielmusik nicht funktionierte“. Sie hörten „Es gibt kein Bier auf Hawaii“ von Paul Kuhn, und das ist kein Lied um seine Trauer auszudrücken, selbst wenn der Verstorbene ein Säufer war und kein Kind von Traurigkeit. Da muß jemand die Kartenthemen durcheinandergebracht haben. Ansonsten sind diese Beileidskarten eine tolle Sache, da können sie sogar ankreuzen wie sie sich fühlen. Da gibt es Kästchen, da können sie ein Kreuz machen bei „traurig“, „sehr traurig“ oder „erschüttert“. Oben noch bei Punkt, Punkt, Punkt den Namen des oder der Verstorbenen einsetzen und ab geht die Post. Also, wenn ich daran denke, daß wir alle noch sterben sollen, daß wir also so langsam dran sind, dann bin ich doch ratlos. Wir, die wir noch vor kurzem herumgesprungen sind und den schönen Frauen hinterhergeschaut haben, als würden wir mit jeder einzelnen von ihnen einen neuen Anfang wagen. Was soll denn dieser abrupte Abschied? Dieser unausgegorene Schlußstrich? Vor allen Dingen werde ich ja auch mal dabei sein. Ich denke, ich werde da mitmachen müssen. Schon aus Solidarität. Da weiß man auch nicht, ob man bei den Ersten oder bei den Letzten sein will. Bei den Letzten, da kommt ja keiner mehr zu der eigenen Beerdigung. Dann kann man auch ne Seebestattung machen, da ist dann wenigstens ein Krake zur Stelle, der uns siebenmal Beileid wünschen kann. Wir haben ja noch vor kurzem Witze gemacht über das Abnippeln. „Abnippeln“ haben wir gesagt. Und wenn einer von uns abgenippelt ist, der in unserem Alter war, dann haben wir gesagt: „Zu jung. Er war zu jung zum abnippeln.“ Aber Leute, der war so alt wie ich. Tod, schäm dich. Laß mich wenigstens noch austrinken und meinen Reißverschluß schließen. Wir sind noch zu jung. Wir sind doch auf ewig zu jung. Laß mich noch das Buch zu Ende lesen und die nasse Wäsche in den Trockner stopfen. Ich habe noch so viel zu tun. Ich kann doch mein Leben nicht so unfertig verlassen. Das wir mal in echt sterben müssen, wir Kinder, wir Fröhlichen und Traurigen, irgendwie habe ich das nie geglaubt. „Der Tod ist wie ein Fußballspiel und keiner steht im Tor. Du fehlst mir heute viel zu viel. Das kommt jetzt häufig vor.“
 

© Erwin Grosche
 Aus: Grosches Weltlexikon