Schräg

Wuppertaler Bühnen: „Ein Winter unterm Tisch“ von Roland Topor

von Frank Becker

Philippine Pachl - Foto © Uwe Schinkel

Schräg
oder
Paper Roses
 
Ein Winter unterm Tisch
von Roland Topor
 
Absurdes Theater mit einem Sch(l)uß Melodram
 
Inszenierung: Schirin Khodadadian - Bühne & Kostüme: Carolin Mittler – Lichtdesign: Christian Franzen – Musik: Johannes Winde - Dramaturgie & Produktionsleitung: Peter Wallgram – Regieassistenz: Kim Florian Eilert & Jonas Willardt – Inspizienz: Jonas Willardt
Besetzung: Florence Michalon: Philippine Pachl – Dagomir: Stefan Walz – Gritzka: Martin Petschan -  Raymonde Pouce: Lena Vogt - Marc Thyl: Alexander Peiler

Aufführungsdauer: ca. 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
 
 
Philippine Pachl, Stefan Walz - Foto © Uwe Schinkel
 
Die Übersetzerin Florence Michalon (Philippine Pachl, mit herrlichem Charme) hat den ungenutzten Raum unter ihrem Tisch dem gestreiften Schuhmacher Dragomir (mit Noblesse: Stefan Walz) vermietet, der sich dort, nach vorherigen Quartieren unter einem Bett und in einer Familiengruft (das er sich mit zwölf anderen teilen mußte) sehr wohl fühlt. Nun, daß die unschuldig weiße, hübsche Florence ihre ansehnlichen Beine in seinen Lebensraum streckt, trägt sichtbar zu Dargomirs Wohlbehagen bei. In der Zweisamkeit ihrer papierverkleideten Welt, in der oben die Tasten der Schreibmaschine auf Endlospapier klappern und unten der Schuhmacherhammer seinen Rhythmus klopft, entsteht zwischen den „Etagen“ vertraute Zweisamkeit, die durch die Suche nach einem abgesprungenen Blusenknopf – vor allem durch die Orte der Suche - auch eine gewisse Intimität gewinnt – und Florence zumindest auf der unteren Hälfte ein wenig Farbe verleiht.


Auf der Suche nach dem Knopf: Philippine Pachl, Stefan Walz - Foto © Uwe Schinkel

Wie schräg die Situation ist, veranschaulicht durch seine versetzten schrägen Ebenen das stimmige Guckkasten Bühnenbild von Carolin Mittler, die auch für die grandiosen Kostüme dieser amüsanten Inszenierung von Schirin Khodadadian verantwortlich zeichnet. Extreme Situationen erfordern auch extreme Figuren, also kommen Florences getupfte Freundin Raymonde Pouce (die ungemein wandlungsfähige Lena Vogt, liebenswert und witzig intrigant), der hahnentrittgemusterte Verleger Marc Thyl (Alexander Peiler) und Dragomirs gleichfalls gestreifter, doch als Künstler etwas bunterer Vetter Gritzka (liebenswert: Martin Petschan) hinzu. Eine Verbindung zu Thyl (von Alexander Peiler mit klebriger Arroganz samt Papier-Rosen gestaltet) könnte die ewig klamme Florence vor dem Dalles retten, doch sie zieht die verträumte Mittellosigkeit vor, bis das glückliche Ende – oder ist es nur ein Traum, wie das ganze absurde Leben? – sich andeutet.
Das als Zwischenspiel absolut hinreißend a cappella einstudierte „Truce“ von 21 Pilots allerdings läßt zumindest Zweifel daran offen: Stay alive, stay alive for me / You will die, but now your life is free / Take pride in what is sure to die
 
Das Stück von Roland Topor (1938-1997) steht in der Tradition des absurden Theaters von u.a. Alfred Jarry, Eugène Ionescu, Samuel Beckett und Sławomir Mrożek, ohne jedoch deren Tiefe zu erreichen. Topors Absicht und Script sowie seiner Neigung zum Melodram folgend, hat Schirin Khodadadian den märchenhaften Schluß denn auch so gestaltet, daß Traum und Wirklichkeit verschwimmen. Sie und ihr Ensemble bieten mit „Ein Winter unterm Tisch“ einen ebenso grotesken wie köstlichen Theaterabend, bei dem wir nicht allzu sehr nach dem Sinn suchen wollen - sehr zu empfehlen.

 
Philippine Pachl, Alexander Peiler - Foto © Uwe Schinkel

Aus dem Programmheft: In der französischen Kunst und Kultur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist Roland Topor sicher eine Ausnahmeerscheinung. Kaum jemand sonst betätigte sich im Laufe seines Lebens auf so vielen Feldern kreativen Schaffens wie er. Topor war ein unermüdlicher Zeichner und Illustrator, aber auch der Autor einer Fülle von Romanen, Kurzgeschichten und Bühnenstücken. Darüber hinaus schrieb er Drehbücher und trat in Filmen auf, führte im Theater Regie, entwarf Bühnenbilder und Kostüme und schuf nicht zuletzt über einhundert Plakate. Roland Topor wurde 1938 als Sohn polnisch-jüdischer Eltern in Paris geboren. Er starb 1997 ebenda.›Ein Winter unterm Tisch‹ wurde 1994 in deutscher Übersetzung in Mannheim uraufgeführt.
 
Weitere Informationen: www.wuppertaler-buehnen.de