Der werdende Mensch - Gustav Landauer und die Anthropologie der Revolution

Eine Gedankensenke

von Andreas Steffens

Dr. Andreas Steffens - Foto © Frank Becker
Gedankensenke
Eine Kolumne von Andreas Steffens
senke eine ausgehöhlte form, andern dingen darin ihre gehörige gestalt zu geben’ Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch

Der werdende Mensch
 
Zwischen Dichtung und Politik:
Gustav Landauer und die Anthropologie der Revolution
 
Von Andreas Steffens
 
 
Nichts ist geschehen, solange deine Seele sich nicht wandelt.
Armin T. Wegner, Der Ankläger (1918/1921)
 
Es war genau dieses Motiv, das Kurt Eisner bewog, wenige Tage, nachdem er  Ministerpräsident des von den Münchener Arbeiterräten gegründeten "Freistaates Bayern" geworden war, Gustav Landauer aufzufordern, sich an dessen Regierung zu beteiligen. Am 14. November 1918 schrieb er ihm: Was ich von Ihnen möchte, ist, daß Sie durch rednerische Betätigung an der Umbildung der Seelen mitarbeiten (nach: Hendel, Landauer, 199).
            Dem konnte er sich nicht entziehen. War er doch von der Notwendigkeit dessen überzeugt, was Ludwig Rubiner mit seinem Manifest "Der Dichter greift in die Politik" schon 1917, mitten im Weltkrieg, als an dessen Ende in Niederlage und Revolution noch nicht zu denken war, gefordert hatte.
            Drei Wochen vor Ausbruch der Revolution, am 18. Oktober 1918, hatte Landauer "Eine Ansprache an die Dichter" gehalten, in der er den Appell: Es tut Not, daß Volk und Dichter zusammenkommen, begründete.
            So ist es möglich, ist es dem Dichter Verlangen, ist es ihm geboten, daß er, wenn er sich von den Gestalten seiner Phantasie zu den Mitmenschen wendet, mit deren Dasein und Gemeinschaft er in der Einsamkeit und Entrücktheit seiner Gebilde schon immer, nur in gewandelter Form, innig und leidenschaftlich verbunden war, daß er nun unmittelbar zur Welt der Arbeit, zur Arbeit an den Sachen der Öffentlichkeit geht (Landauer, Ansprache, 358 f.). Diese Mitarbeit an der Gestaltung des Gemeinschaftslebens ist dem Dichter nicht nur wie jedermann eine Bürgerpflicht. Sie ist ihm a l s Dichter notwendig. Hier gerade soll der schauerliche Beruf des Dichters, in seinem Dichten als Spielender zu leben, im Leben, im Leben der Allgemeinheit seinen Ausgleich finden. Des Dichters Erholung heiße Arbeit (a.a.O., 360). Durch den Tod seiner Frau, der Lyrikerin und Übersetzerin Hedwig Lachmann, die am 21. Februar gestorben war, hatte der Dichter Landauer Erholung dringend nötig. Er unterbricht die Arbeit an seiner zweibändigen Shakespeare-Monographie, und wird im November Mitglied des 'Revolutionären Arbeiterrates' in München, und nach Ausrufung der Räterepublik im April 1919 Bevollmächtigter für 'Kultus und Volksaufklärung'. Am 11. Januar 1919 schreibt er an Martin Buber: Es steht so, daß mir die Revolution wieder die Frische und Arbeitskraft gegeben hat, die ich zu dieser Hauptarbeit brauche (Buber, Vorwort, in: Landauer, Shakespeare, VIII).
            Es kann revolutionäre Dichtung geben; aber keine dichterische Revolution. Was der Dichter, der in deren Geschehen aktiv eingreift, zu ihr beizutragen hat aber, ist identisch mit dem, was Motiv seiner Dichtung ist: das in jedem Verborgene, das Menschentum erwecken (a.a.O., 362).
            Das aber ist nichts anderes, als Landauers Bestimmung des Sozialismus. In einem Aufsatz der Zeitschrift 'Sozialist' hatte er 1913 geschrieben: Sozialismus ist Arbeit an der Menschheit, die, innen und außen, Wirklichkeit werden soll (zitiert nach: Buber, Vorbemerkungen, in: Landauer, Der werdende Mensch, IX). Genau das unterscheidet den libertären vom autoritär-kollektivistischen Sozialismus sowjetischer Prägung, und läßt ihn zu einer Gestalt des Anarchismus werden. Was wir Sozialisten wollen, die wir nicht den Staat, sondern die Gesellschaft bauen wollen, das heißt die Vereinigung nicht aus dem Zwang, sondern aus dem Geiste, das ist gegründet auf das freie, selbständige Individuum (Landauer, Von der Ehe, 61).

            Dem Anhänger Kropotkins, dessen Grundlegung des Anarchismus über "Gegenseitige Hilfe" bei Tier und Mensch er 1904 übersetzt hatte, bürgt die Natur und deren Wirken im Menschen für die Realisierbarkeit einer herrschaftsfreien Gesellschaftsordnung. Kropotkin sieht in der Menschennatur ursprüngliche, auch im Tierreich durchgängig waltende Gemeinschaft, Zusammengehörigkeit, Gegenseitigkeit. Er sieht, daß die Aktionen aller wirtschaftlich und politisch Unterdrückten die Hindernisse entfernen wollen, die diese ursprüngliche, echte Natur nicht zur Entfaltung kommen lassen, daß sie Zustände herstellen wollen, die dieser guten Anlage entsprechen (Landauer, Peter Kropotkin, 227). So wird zur Grundlage einer darauf gerichteten revolutionären Politik, durch all die Verwirrungen der zeitlich bedingten Grundsätzlichkeiten hindurch das Urwesen des Menschen als Verbundenheit und Gegenseitigkeit zu entdecken (a.a.O., 226). Es kommt darauf an, das echte allgemeine Menschenwesen zur Geltung zu bringen, das alle in sich tragen (a.a.O.).
            Gegenstand der Revolution sind also nicht allein die politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse, unter denen gelebt wird. Deren Umsturz und Neuordnung ist nicht ihr Zweck. Er ist das Mittel zu einem weit umfassenderen Zweck. Dieser zielt auf nicht weniger als das Sein der Menschen. Revolution heißt nicht, nur zu ändern, wie sie sind, sondern was. Revolution heißt, zu ermöglichen, daß Menschen sein   k ö n n e n, was sie  s i n d.
            Die industrielle Revolution hatte mit dem Proletarier nicht nur eine neue Form, durch Arbeit zu leben, hervorgebracht, sondern eine neue Gestalt des Menschen. Der marxistische Sozialismus erhob ihn zum Modell für den künftigen Menschen überhaupt, den 'Neuen Menschen'. Seine Alleinherrschaft sollte jede andere Gestalt zum Verschwinden bringen.
            Diese alleinige und endgültige Bestimmung verweigert der anarchistische Sozialismus. Was ich Sozialismus nenne, ist keine Vollkommenheit. (...). Der Sozialismus knüpft nicht ans Absolute an und geht nicht aufs Absolute aus. Auch auf keine absolute Bestimmung 'des' Menschen. Denn für Landauer steht fest, daß es keinen 'neuen' Menschen zu schaffen gilt, sondern alles abzuschaffen, was seinem vorhandenen Wesen widerspricht. Denn er sieht es in allen Menschen vorhanden. Deshalb ist die Aufgabe der  Sozialisten und der durch sie herbeigerufenen, herbeigeführten Völkergeschehnisse: die Lockerung der Verhärtung in den Gemütern vorzubereiten, auf daß Verschüttetes wieder nach oben komme, auf daß wahrhaft Lebendiges, das jetzt völlig tot scheint, wieder hervorbreche und emporwachse (Landauer, Gott und der Sozialismus, 33; 32).
            Diese Perspektive hat Landauer auf den Begriff des 'werdenden' Menschen gebracht. Er bezeichnet eine offene, nicht normativ ausholende Anthropologie, die es nicht darauf anlegt, zu bestimmen, was der Mensch sein soll, sondern erkundet, wie er sein kann, was er ist. Die Menschheit ist eine Idee. Sie ist nicht, wahrlich nicht; aber sie ist lebendig im Werden (Landauer, Die Botschaft der Titanic, 105). Nach dieser Voraussetzung ist Revolution die Ermöglichung eines Andersseinkönnens, das gewährt, in genauerem Einklang mit dem zu existieren, was Menschen sein sollten, weil sie es doch sind, ohne es schon zur Vollendung leben zu können. Die Freiheit, genau darüber bestimmen zu können, jeder für sich, und alle miteinander, ist Sinn und Aufgabe einer Revolution. Der Zweck der Revolution ist der unfertige Mensch: der, der seine Unvollkommenheit aus eigener Kraft überwinden will, indem er sich entschließt, selbst zu bestimmen, nicht nur, wie er leben, sondern was er sein will.

            Mit der Zerschlagung der Münchener Räterepublik am 15. April 1919 durch Freikorps-Truppen, denen die - sozialdemokratische - Reichsregierung in Berlin freie Hand gegeben hatte, endete die erste Politik, die auf diesem anthropolitischen Konzept beruhte. Landauer kostete sie das Leben.
            Die Umstände seiner Ermordung am 2. Mai 1919 im Gefängnis München-Stadelheim waren so grauenvoll brutal, daß sie unweigerlich die Frage aufwerfen, ob Menschen, die zu derartigem fähig sind, überhaupt Menschen seien. Die Antwort darauf kann nur ein klares 'Ja' sein. Landauer hat sie in beklemmend genauer Vorhersicht selbst gegeben, als er die Pariser Commune von 1871 und deren Zerschlagung beschrieb als den Versuch, die Menschlichkeit des andern durch die eigene Unmenschlichkeit zu erzwingen (Die Botschaft der Titanic, 105).
            Genau das demonstriert die Art seines Todes. Noch sie bezeugt seinen Grundgedanken vom erst 'werdenden' Menschen. Alle Äußerungen seines Daseins sind menschlich; aber kein Ausdruck eines fertigen Menschseins. Nur deshalb kann es Unmenschlichkeit geben. Der Unmensch muß auftreten, damit der Mensch sichtbar werde. Davon war Landauer so sehr überzeugt, daß seine letzten Worte sein konnten: Erschlagt mich doch, daß ihr Menschen seid! (nach: Norbert Seitz, Landauer, 272). Von Philosophen verlangt man gerne Einklang ihres Lebens mit ihrer Lehre, weniger ihres Todes. Wenige haben ihren Tod in derartig genauem Einklang mit ihrer Lehre erlitten, wie Gustav Landauer.

            Die Verleugnung des Menschlichen in Akten der Unmenschlichkeit ist Teil des Menschlichen. Keine andere Einsicht aus den Erfahrungen der neueren Geschichte ist wichtiger als diese; keine schwieriger anzuerkennen. Sie bezeugt in drastischster Weise, was den Idealen eines libertären Sozialismus zugrunde lag: die Unfertigkeit des Menschen, dessen Befreiung zu sich selbst seine bleibende Aufgabe ist.
            Die Ereignisse, die Landauer ums Leben brachten, waren ein Probelauf zum Nationalsozialismus, dessen treibendes Motiv die Bereinigung der Menschheit durch  Vernichtung all derer war, die seiner Bestimmung 'des' Menschen nicht entsprachen. Seine Enteignung der Idee einer Vervollkommnung des Menschen mündete in die bisher gewaltigste Manifestation des Unmenschlichen, seit Europa mit der Erklärung der allgemeinen Menschenrechte in der Französischen Revolution begann, Politik auf eine Anthropologie zu gründen.
            Sie ist nicht die einzige. Auch der Unmensch hat seine; auch er weiß, was der Mensch sein soll. Während der libertäre Sozialismus den Menschen zu sich selbst befreien will, will die totalitäre Anthropolitik einen anderen Menschen erschaffen. Dazu kennt sie nur die Mittel der Gewalt: Unterdrückung und Vernichtung derer, die ihrem Idel nicht entsprechen.
            'Der' Mensch ist die Fiktion eines Wesens, das sich nach dem Grad seiner Unfertigkeit verfehlen kann.
            Hundert Jahre später ist all das vergangen; aber nicht vorbei. In unvordenklicher Regression scheint wiederkehren zu wollen, was doch überwunden schien. Wie es seit Menschengedenken immer schon wiederkehrte. So, wie Shakespeare es in seinen Dramen beschrieb, die eine vollständige Anthropologie enthalten. Wie da nicht resignieren?

            Als Eisner ihn aus Berlin nach München rief, war Landauer damit beschäftigt, seine große Shakespeare-Monographie abzuschließen. Sie ist vergessen, obwohl sie zum bedeutendsten gehört, was über den profundesten Menschenkenner der Neuzeit geschrieben wurde. In der Analyse des "Julius Cäsar" formuliert Landauer den Gedanken, der  i h n  vor dem Abgleiten in Resignation bewahren konnte.
            Wie könnten wir - wir heute gar! - nur einen Augenblick das Leben ertragen, wenn wir die Menschen, das geheime Sein, das Wesen, die wahre Art, die Möglichkeiten des Menschen nach dem beurteilen müßten, was sie in ihrer Rolle tun! (...). Wonach aber, wonach in aller Welt soll man die Menschen beurteilen, wenn nicht nach dem Tun? Die Antwort ist längst gegeben, und es gibt keine andere: Richtet nicht! (Landauer, Shakespeare, Bd. 1, 180).
 

Literatur:
Eckart, Meister, Mystische Schriften, in unsere Sprache übertragen von Gustav Landauer, aus dem Nachlaß hg. von Martin Buber, Berlin 1920
Hendel, Gerhard, Gustav Landauer, Versuch einer biographischen Skizze, in: Gustav Landauer, Der werdende Mensch. Aufsätze zur Literatur, mit einem Essay von Arnold Zweig, Leipzig-Weimar 1980, 180-207
Landauer, Gustav, Der werdende Mensch. Aufsätze über Leben und Schrifttum, aus dem Nachlaß hg. Von Martin Buber, Potsdam 1921
Landauer, Gustav, Eine Ansprache an die Dichter (1918), in: ders., Der werdende Mensch. Aufsätze über Leben und Schrifttum, hg. von Martin Buber, Potsdam 1921, 356-363
Landauer, Gustav, Von der Ehe (1910), in: ders., Der werdende Mensch. Aufsätze über Leben und Schrifttum, hg. von Martin Buber, Potsdam 1921, 56-67
Landauer, Gustav, Peter Kropotkin (1912), in: ders., Der werdende Mensch. Aufsätze über Leben und Schrifttum, hg. von Martin Buber, Potsdam 1921, 212-230
Landauer, Gustav, Gott und der Sozialismus (1911), in: ders., Der werdende Mensch. Aufsätze über Leben und Schrifttum, hg. von Martin Buber, Potsdam 1921, 14-39
Landauer, Gustav, Die Botschaft der Titanic (1912), in: ders., Der werdende Mensch. Aufsätze über Leben und Schrifttum, hg. von Martin Buber, Potsdam 1921, 100-106
Landauer, Gustav, Shakespeare. Dargestellt in Vorträgen, 2 Bde., aus dem Nachlaß hg. von Martin Buber, Ffm 1923
Rubiner, Ludwig, Der Dichter greift in die Politik, in: ders., Der Mensch in der Mitte, Politische Aktions-Bibliothek, hg. Von Franz Pfemfert, Berlin 1917
Seitz, Norbert, Gustav Landauer und die Münchener Räterepublik, in: Michael Matzigkeit, Hg., "...die beste Sensation ist das Ewige...": Gustav Landauer - Leben, werk und Wirkung, Düsseldorf 1995, 267-272
Steffens, Andreas, Anthropolitik, in: ders., Philosophie des 20. Jahrhunderts oder Die Wiederkehr des Menschen, Leipzig 1999, 87-203
Steffens, Andreas, Adoptivkind der Revolution und Stiefkind der Geschichte. Literatur zwischen Utopie und Politik, in: KARUSSELL. Bergische Zeitschrift für Literatur, Ausgabe 8, November 2018, 21–28
Susman, Margarete, Gustav Landauer, in: dies., Vom Geheimnis der Freiheit. Gesammelte Aufsätze 1914–1964, hg. von Manfred Schlösser, Darmstadt-Zürich 1965, 255–270
Susman, Margarete, Die Revolution und die Juden, in: dies., Vom Geheimnis der Freiheit. Gesammelte Aufsätze 1914–1964, hg. von Manfred Schlösser, Darmstadt-Zürich 1965, 122–143
 
Andreas Steffens, Schriftsteller und Philosoph; lebt in Wuppertal; 2009 Träger des Springmann-Preises; Im NordPark Verlag: >Gerade genug. Essays und Miniaturen< und >Vorübergehend. Miniaturen zur Weltaufmerksamkeit<. Ebenfalls dort: >Ontoanthropologie. Vom Unverfügbaren und seinen Spuren<, sowie >Heimat. Zwischen Selbst und der Welt< und im Athena-Verlag die kunstphilosophische Studie >Selbst-Bildung. Die Perspektive der Anthropoästhetik< - Im Arco Verlag: „Die Narbe oder Vom Unerträglichen“, 2017