Wie die Welt von Innen ihre Form erhält

Im Inneren der Atome (1)

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Wie die Welt von innen ihre Form erhält

Von Ernst Peter Fischer
 

Im Inneren der Atome (1)
 
Unabhängig davon, was es mit den Genen im Einzelnen auf sich hat. Wenn die Physiker und Biologen im Innen (im Inneren ihrer Objekte) ankommen, treffen sie auf Kerne, was oberflächlich vergleichbar klingt und nicht unmittelbar das Gemeinsame des dort Aufgefundenen preisgibt. Natürlich erreichen die Forscher in ihren jeweiligen Disziplinen andere Ordnungen dessen, was die philosophische Sprache als Sein – als materielles oder lebendiges Sein – kennt. Aber sobald sie das Dinghafte, das Reale im Zentrum sowohl des Anorganischen als auch des Organischen, ihrem geistigen Auge vorstellen, zeigen sich ungewöhnliche Übereinstimmungen, was zu Konsequenzen führt, die bis zur Innerlichkeit des Menschen reichen, auf die der Aufsatz noch eingeht.
     Was zunächst die Physik mit ihrem Atomkern angeht, so stellt sich ein Außenstehender die elementaren Bausteine der Materie immer noch gerne durch das Modell vor, das auf den Dänen Niels Bohr zurückgeht und kurz vor dem Ersten Weltkrieg entworfen und vorgestellt wurde. In dieser Sicht bestehen Atome aus einem festen kugeligen Kern, in dem sich Teilchen aneinander klammern und der von kleineren Partikeln namens Elektronen auf ihren Bahnen umrundet wird, die so etwas wie seine Hülle ausmachen. Mit anderen Worten, tief innen treffen Menschen auf Kreisbahnen um eine Kugel, die genauso aussehen wie die Planetenbahnen um die Sonne weit draußen in den himmlischen Sphären, was den Verdacht aufkommen läßt, daß Menschen nur sehen, was sie sehen wollen oder was sie sehen können und ihnen zugedacht ist.
     Wenn es stimmt, daß die Welt aus Atomen besteht, dann waren die Physiker zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem Bohrschen Modell zwar in ihrem Innersten angekommen, allerdings fiel es ihnen schwer, am Ziel ihres Weges in Feierlaune zu geraten. Was man nämlich am Ende der Wanderschaft durch die materiellen Wälder der Innenwelt sah, erwies sich beim näheren Hinsehen mehr als verwirrend und weniger als klärend. So zeigte sich zum Beispiel in den Atomen viel freier Platz und eine Menge scheinbar leerer Raum zwischen dem Kern und seiner elektronischen Umhüllung, in dem natürlich niemand etwas vermessen konnte. Außerdem wußte man nicht zu sagen, wieso in solch einem Kern mehrere positiv geladene Teilchen fest verbunden existieren konnten, da sich gleiche Ladungen doch abstoßen sollten. Gab es da noch etwas bislang Verborgenes im Inneren des Innersten der Atome? Und dann waren da noch die Bahnen der Elektronen. Sie konnte es nach den damals bekannten Gesetzen der Physik gar nicht geben. Ihnen zufolge mußte nämlich eine rasend rotierende Ladung massiv Energie abstrahlen, was unweigerlich dazu führte, daß der positive Kern die negativ geladenen Elektronen erst zu sich hin zog und dann einfing, und damit würde das Atom instabil und seine Existenz physikalisch unmöglich.
     Im Innersten der Dinge konnte es offenbar nicht so zugehen wie in der Außenwelt, wie die Physiker bald einsahen, ohne zunächst mehr dazu sagen zu können. Es dauerte nach Bohrs Vorschlag von 1913 ein Dutzend Jahre, bevor sich zum ersten Mal abzeichnete, wie ein Atom mit den Mitteln der physikalischen Wissenschaft zufriedenstellend erfaßt werden konnte, und der erste, dem es gelang, den Schleier über dem tiefen Innen der Materie wenigstens ein Stück zu lüften, war 1925 der damals 24jährige Werner Heisenberg, der in einer Nacht auf Helgoland dabei das Erlebnis hatte, das der romantische Dichter Novalis demjenigen zuschreibt, dem es gelang, „den Schleier der Göttin zu Sais“ zu heben. Heisenberg hat in seiner Autobiographie „Der Teil und das Ganze“ ausführlich geschildert, wie er diesen Schleier zu fassen bekam, wobei er selbst – geübter Kletterer in den bayerischen Bergen – lieber von dem Nebel sprach, der sich vor seinen Augen lichtete, als er seine Wanderung ins Innere der Atome mit zunehmender Erregung fortsetzte.
 Zur Erinnerung: Die verhüllte Statue der Göttin von Sais (oder der Isis) galt in der Tradition antiker Mythen als Verkörperung der Natur, die zwar auf Anordnung von oben verborgen bleiben sollte, die aber nach und nach unweigerlich die Neugier der Menschen unten auf der Erde lockte, da die Vertreter dieser Spezies bekanntlich eines überhaupt nicht können, nämlich ihren Wissensdrang zügeln. Man kann nicht nicht wissen wollen, wie es Robert Musil in seinem Roman „Mann ohne Eigenschaften“ ausgedrückt hat, und wer würde diesen Gedanken bestreiten wollen?
 
 
© 2018 Ernst Peter Fischer

Teil 2 können Sie am kommenden Sonntag an dieser Stelle lesen.