Angers im sanften Anjou (1)

Eine Reiseliebe

von Joachim Klinger

Die Schloßmauer von Angers - Foto © Annamartha / pixelio.de

Angers im sanften Anjou (1)

Eine Reiseliebe - von Joachim Klinger

I
 
Liebgewonnen habe ich diese französische Stadt schon 1970. Ich hatte eine Loire-Reise besonderer Art hinter mir, nämlich mit der Eisenbahn und Linienbussen in Orléans beginnend über Blois, Amboise, Tours, Chinon bis Saumur. Angers war damals noch nicht im Reiseprogramm großer Bus-Unternehmen, das wußte ich. Aber ich wollte auch nach Angers. Die Loire brauchte nur noch eine kurze Strecke, um sich in Angers mit der Maine zu verbinden und in Richtung Nantes und zum Meer zu streben. Ich setzte mich in den Zug und fuhr nach Angers, um mich dort ein wenig auszuruhen nach den vielen Schloß- und Kirchenbesichtigungen und stundenlangen Wanderungen durch wunderbare Altstadt-Viertel.
Angers nahm mich mit der Gelassenheit und Würde einer stattlichen Dame auf. In der Rue des Lices, die vom Boulevard du Roi René in die Innenstadt führt, fand ich in einem kleinen Hotel ein ruhiges Zimmer. Ganz in der Nähe ragte der mächtige, 54 m hohe Turm des früheren Klosters Saint-Aubin auf, alleinstehend und wachsam. Die Klosteranlage aus dem 6. Jahrhundert war zum großen Teil abgebrochen worden, zum Teil war sie in die später gebaute Präfektur integriert worden.
 
Vor dem Liebgewinnen steht das Kennenlernen. Ich machte mich also auf zum Schloß, einer Anlage mit 17 Rundtürmen aus dem 13. Jahrhundert, die recht gedrungen erschienen, aber sich schützend aufreckten und Teil der Stadtbefestigung waren. Man hatte sie „gestutzt“, nachdem die französischen Könige für ihre Schlösser die Turmhöhen festgelegt hatten. Von der Schloß-Mauer aus gab es einen herrlichen Ausblick auf die Maine, die überraschend tief gelegen ruhig dahinfloß.
Auf dem anderen Ufer der große Stadtteil Doutre mit dem Hôpital Saint-Jean, einem aus Gebäuden mit Krankensaal, Kreuzgang, Kapelle und Speichern bestehenden Ensemble aus dem 12. Jahrhundert. Als ich so Ausschau hielt, wußte ich noch nicht, daß das Schloß und das Hôpital Saint-Jean die Kunstschätze bargen, die Angers in den Rang einer der bedeutendsten Kulturmetropolen Frankreichs erhoben.
Ich wollte mir zunächst ein Bild von der Stadt machen und „erwanderte“ sie. Also zunächst das Zentrum mit der einladenden Place du Ralliement, dann die großzügigen Boulevards, die den Stadtkern umgeben, die Place du Général Leclerc mit dem imposanten Justizpalast und schließlich den zum Ausruhen einladenden Jardin des Plantes. Natürlich besichtigte ich die gotische Kathedrale Saint-Maurice, die nahegelegene Maison d’Adam, ein schönes fünf Stockwerke umfassendes Fachwerkhaus mit originellen geschnitzten Figuren im Gebälk, den großen Ausstellungsraum mit Skulpturen des Bildhauers David d’Angers (1788-1856) und anderes.
 
 
II
 
In dem eigens dafür errichteten Gebäude auf dem Schloßgelände, Grande Galerie genannt und auch als Musée des Tapisseries bezeichnet, befindet sich ein Meisterwerk der Kunst: die Apokalypse des Johannes (Tenture de l’Apocalypse), bestehend aus ca. 70 Wandteppichen. Ursprünglich sollen es wohl 98 gewesen sein, die an hohen Kirchenfesten im Haupt- und Querschiff der Kathedrale von Angers aufgehängt wurden. Herzog René von Anjou hatte das Kunstwerk aus dem Familienbesitz herausgelöst und der Kathedrale vermacht (15. Jahrhundert). Er entzog es damit dem Zugriff Ludwigs XI., der das Herzogtum 1476 zum königlichen Lehen machte. In der französischen Revolution verschwanden die Teppiche. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts wurden sie zum Teil wiederentdeckt. Manche waren zerschnitten und profanen Zwecken zugeführt worden, z.B. als Bettvorhänge benutzt worden. 1843 kaufte Bischof Angebault das größte Konvolut für einen bescheidenden Betrag zurück, und die Restaurierungsarbeiten begannen.
Das inzwischen weltbekannte und hochgeschätzte Kunstwerk verdanken wir dem Zusammenwirken von drei Persönlichkeiten: Auftraggeber war Ludwig I., Herzog von Anjou (1339-84), die Entwürfe lieferte der Maler Jean de Bondol (auch Hennequin de Bruges genannt), der Teppich-Hersteller war Nicolas Bataille. Religiosität, Kunstsinn und geniale Schaffenskraft haben sich hier zu einem einmaligen Werk verbunden, das die Betracher zu allen Zeiten in Bewunderung versetzt hat.
 
Nicht die „Botschaft“, die vielerlei Auslegungen erfahren hat, ist das primäre Faszinosum. Es ist die künstlerische Gestaltungskraft, die uns erfaßt und an den langen und hohen Tapisserien nur langsam vorbeiziehen läßt. Diese Gestaltungskraft manifestiert sich besonders in einem ruhigen Rhythmus der Farben (Hintergrund wechselnd tiefblau und ziegelrot) und in der gleichbleibenden Ordnung der Formen. In klarer Gliederung erkennen wir seitlich am Bilderrand unter einem Baldachin den Evangelisten, dem die Offenbarung des Endgerichts bis zur Vollendung der christlichen Kirche zuteil wird. Unter einer Abschlußbordüre beginnt eine erste Reihe mit sieben Szenen. Dann folgt ein erläuterndes Schriftband über der zweiten Reihe mit sieben Szenen und schließlich ein weiteres Schriftband mit der unteren Abschlußbordüre. Auf diese Weise wird das Auge geführt und so etwas wie ein Gleichklang erreicht.
Das Bildgeschehen ist überreich: wunderschöne Engelgestalten, immer wieder Posaunen blasend, schreckliche Ereignisse wie z.B. Feuersbrunst und Schiffbruch im stürmischen Meer, grässliche Geschöpfe wie Drachen und Ungeheuer mit sieben Löwenköpfen. Dies alles ist eingegliedert in den erzählerischen Fluss, der kein aufdringliches Eigenleben der Einzelerscheinungen erlaubt. Die Tapisserien in ihrer gewaltigen Gesamtaussage lassen sich nur einer großen Sinfonie mit ihrem Zusammenklang vieler Instrumente vergleichen. Daß unter manchen Bordüren am unteren Bildrand Häschen in ein Erdloch schlüpfen, mag dem Betrachter den erleichternden Eindruck vermitteln: Es gibt noch die unversehrte Welt!
 
 
III
 
In dem 60 m langen und 22,5 m breiten ehemaligen Krankensaal des Hôpital St. Jean, der als dreischiffiger hoher Raum dem Besucher wie das Innere einer großen Kirche vorkommt, begegnete mir 1970 erstmal Jean Lurçats „Chant du monde“, eine Folge großer Tapisserien, die der Künstler zunächst „die Lebensfreude“ (La Joie de vivre“) genannt hatte. Die Arbeit an diesem Werk begann 1956-1957 und wurde 1961 mit „La Poésie“ abgeschlossen. Der Gesamtzyklus, in Paris, Namur, Arvas und Lyon ausgestellt, fand im Hôpital St. Jean von Angers eine dauerhafte Bleibe und wurde von der Stadt Angers erworben (1966/67). Damit schuf kluge Kulturpolitik einen Kontrapunkt zur Apokalypse im Schloß auf der anderen Seite der Maine.
Denn Lurçats Werk kann es mit dem mittelalterlichen Zyklus durchaus aufnehmen.
Betrachten wir einmal die äußeren Dimensionen! Die Gesamthöhe der Apokalypse-Tapisserien beläuft sich auf 5,15 m, die Gesamtlänge auf 144 m. Vor diesem Meisterwerk hatte Jean Lurçat im Juli 1937 gestanden, und es gab ihm Impulse für seine eigene Arbeit. Ja, er wurde vom „Virus der Tapisserie“ befallen, wie er es selbst nannte. Man darf Jean Lurçat ohne Bedenken den großen Erneuerer der Kunst der Tapisserie nennen. Die bereits erwähnte Poésie mißt 4,40 m x 10,4 m, die 8. Tapisserie mit dem Titel „La Conquête de l’espace“ (Eroberung des Weltraums) 4,40 m x 10,35 m.
 
Schon die Maße der Apokalypse hatte Lurçat bewundert („Plus de cent mètres de long!“), und er fand sie dem künsterlischen Anspruch einer Tapisserie angemessen. Er betrachtete sie als eine „Sache der Architektur“ und charakterisierte sie so: „la Tapisserie murale est un chant“ (aus Jean Lurçat – Extrait de „Le Travail dans la Tapisserie au Moyen Age“, abgedruckt in „Les domaines de Jean Lurçat“ 1986).
In der Tat, es sind große Gesänge diese Tapisserien von Jean Lurçat, die vergessen lassen, daß man sich in einem Gebäude befindet und daß die Werke Mauern bedecken! Sie zeigen die ganze Fülle des Daseins und darüber hinaus der Phantasie. Sie greifen Gedanken auf und beschreiben Träume. Als kraftvolle Überzeugung liegt ihnen die Lebensfreude zugrunde.
Das Wuchern und Blühen der Pflanzen, überstrahlt vom Sonnenlicht, die Schwärme von Schmetterlingen, feuerspeiende Salamander, Vögel und anderes Getier und der Mensch, wie in Flammen stehend, nicht nur auf unserer Erde, auch bei den Sternen. Dies alles in überwältigender Farbigkeit! In der „Conquête de l’espace“ kreisen Gestirne, ziehen Kometen ihre Bahn und sammeln sich fremdartige Gebilde zu neuem Werden im nachtblauen All. Zum Schluß ein Menetekel: der Mensch von Hiroshima! Jean Lurçat, den ich neben Picasso und Max Ernst stelle, ist in Deutschland zu wenig bekannt, obwohl Tapisserien von ihm auch nach Düsseldorf, Duisburg und Oberhausen gingen. Seim Gesamt-Oeûvre harrt der Entdeckung.
 
Angers besitzt nicht nur den Chant du Monde, die Stadt hat auch den gesamten Nachlaß des Künstlers erworben, als dieser 1966 verstarb. Kein auftrumpfender Neubau versammelt diese Kunstschätze, sondern ein bescheidenes, fast unauffälliges Gebäude neben dem Hôpital Saint-Jean. Außerdem bietet Angers immer wieder moderner Tapisserie Ausstellungsmöglichkeiten und ehrt damit den Meister.

© 2019 Joachim Klinger

Begleiten Sie Joachim Klinger an dieser Stelle morgen weiter durch Angers!