Rückkehr nach Heimeran

von Dorothea Renckhoff

Foto © Frank Becker
Rückkehr nach Heimeran
 
Von Dorothea Renckhoff
 
Wir lebten seit zwei Jahren zusammen in Daniels Haus, als die Abbruchkante plötzlich ganz nahe kam. Er hatte schon lange mit dem Wissen gelebt, daß es sie irgendwo gab und daß sie heranrückte, aber so, wie man weiß, daß man eines Tages sterben muß und es nicht wirklich glaubt. Doch jetzt war sie mit einem Schlag real.
Heimeran war zur bergbaulichen Bearbeitung freigegeben, der Exodus beschlossene Sache. Alle Bemühungen zur Rettung der Ortschaft waren gescheitert, das stand unumstößlich fest.
Vom Tag dieser Entscheidung an geriet alles in den Strudel einer Beschleunigung, die ich mir niemals hätte träumen lassen. Bald waren die besten Grundstücke in Neu-Heimeran vergeben, die ersten Häuser wuchsen empor, und der alte Ort verödete wie im Zeitraffer.
Der erste Betrieb, der schloß, war der kleine Frisiersalon. Die Inhaberin hatte gerade ihren einzigen Angestellten verloren, niemand wußte genau, wie und warum, und sie scheute die Suche nach einem Nachfolger, zumal der junge Mann bei den Kunden wegen seiner behutsamen Hände außerordentlich beliebt gewesen war. Damit war es vorbei, wie mit allem andern. Wer das beklagte und kein Gefallen an Neu-Heimeran fand, den sollte die Zukunftsvision einer Rekultivierung umstimmen, Bilder einer traumschönen Landschaft, die sich wie ein Zauberschleier heilend über die abgebaggerte Ebene breiten würde.
Daniel betrauerte den Verlust seines Elternhauses schon im Voraus. Der Abschied von seinem Garten nahm nach und nach in seiner Vorstellung die Ausmaße eines alles verschlingenden Abgrunds an. Er hatte nichts mehr vor Augen als eine Vision von Riesenbaggern, die über seine überschäumenden Beete kamen und ihr Blühen zerhäckselten.
An einem Haus in Neuheimeran hatte er kein Interesse. Ich kümmerte mich darum, ich organisierte, was nötig war, ich erkämpfte mir sogar seine Unterschriften, wo sie unverzichtbar waren. Er nahm daran nicht teil, und eigentlich nahm er an nichts mehr teil. Seine Aufmerksamkeit galt allein dem kleinen Apfelbaum, der im Herbst seine ersten Früchte hätte tragen sollen. Im Herbst, wenn der Ort bereits den Baggern gehören würde. Ich schlug vor, das Bäumchen auf das neue Grundstück umzupflanzen, aber Daniel schüttelte nur den Kopf, ‚das überleben wir nicht’, sagte er mit trübem Blick auf die winzigen Fruchtansätze.
Er ging durch Haus und Garten wie der Geist eines Verstorbenen, der noch einmal dahin zurückkehrt, wo er gelebt hat.
 
     Nach dem Abriß der Kirche im Nachbarort begann er zu verstummen. Er sprach kaum noch, er schien ganz in sich versunken, und erst später ist mir klar geworden, daß sein Schweigen nicht den Abbruch seiner Beziehung zu mir bedeutete. Es war vielmehr Ausdruck seiner Verbundenheit mit mir; er ging davon aus, daß ich mit ihm dachte, daß ich sein Fühlen und Erleben teilte und ihn ohne ein Wort zwischen uns verstand. Und tatsächlich war es bei der Zertrümmerung der Kirche so gewesen; in dem Augenblick, als sich der Reißzahn des Baggers in die Fensterrose über dem Portal hakte, hatte ich einen stechenden Schmerz im Innern gespürt. Einen Schmerz, dessen Ausdruck ich gleichzeitig auf seinem Gesicht hatte erscheinen sehen. Dann war die Rosette in Bruchstücken herabgeregnet, immer rascher, und an den Einzelteilen war nichts mehr gewesen von der Schönheit des bunten Fensters. Stumm hatten wir gestanden und zugesehen, wie das riesige mechanische Wesen die farbglühende Blume mit wenigen Bissen in ein häßliches Loch verwandelte, ein Loch in einer Ruinenwand, die wenig später ebenso in großen Brocken auseinander polterte.
Danach kamen die Tage, als Daniel nur noch im Garten saß. Während bei den Nachbarn die Möbelwagen vorfuhren, versank er mit Blick und Bewußtsein in den Rosen, die in diesem Sommer in einer Fülle hervorgebrochen waren, wie ich es noch nie erlebt hatte. Vielleicht aber hat er in jeder Blüte, die sich öffnete, immer wieder die zerstörte Rosette jener Kirche erkannt, die ihm wohl zum Symbol für den Verlust der Heimat geworden war.
Ich sah ihm zu, wann immer ich konnte. Es war, als spüre er schon jetzt, wie der Boden weggebaggert wurde, auf dem Haus und Garten standen. Manchmal trat ein Ausdruck in sein Gesicht, als lausche er in die Erde unter seinen Füßen hinunter, als sei sie bereits in Bewegung geraten und flüssig geworden, und der Treibsand schlürfe ihn ein und ziehe ihn hinab.
Ich sah zu und konnte doch nichts tun. Ich fühlte den Sog, der ihn immer stärker erfaßte und immer entschiedener mit abwärts nahm, und ich war machtlos dagegen.
Ich fand ihn dann, früh am Morgen; er war schon ganz kalt.
Wir waren nicht verheiratet gewesen, ein Testament hatte er nicht gemacht. Das neue Haus ging an seinen Cousin, ebenso wie alles andere. Der Cousin erlaubte mir großzügig, bis zum Abriß wohnen zu bleiben und ein paar kleinere Möbelstücke mitzunehmen.
So erlebte ich die letzten Wochen von Heimeran allein in Daniels Haus.
Aber es dauerte nur wenige Tage, bis ich mich nicht mehr allein fühlte. Es war, als wäre etwas in meiner Nähe, als bewege sich die Luft, als streife eine Wesenhaftigkeit durch den Raum. Jeden Abend wurde es deutlicher, bis ich in der Nacht jemanden atmen hörte auf dem Kissen neben mir.
Am nächsten Morgen fand ich seine Schuhe und Strümpfe vor der Badezimmertür, wie früher, wenn er sie dort bereitgestellt hatte. Es war nur ein erster Hinweis, es tauchten weitere Zeichen seiner Anwesenheit im Haus auf. Jeden Tag spürte ich seine Nähe deutlicher.
Doch ehe er sich zeigen konnte, zwang man mich, das Grundstück zu verlassen. Es war so weit, die Bagger kamen.
 
     Ich hielt mich noch ein paar Wochen in der Nähe auf, aber über die Grenzen des Ortes hinaus konnte er mir wohl nicht folgen. Dann fand ich anderswo Arbeit, weit fort. Viele Jahre bin ich nicht zurückgekehrt.
Vor kurzem las ich einen Artikel über unsere abgebaggerte Heimat. Fotos zeigten das alte und das neue Heimeran, Bilder von einst und jetzt, auch eines von Daniels blühendem Garten war dabei. Den meisten Raum jedoch nahm der Bericht über die gelungene Rekultivierung ein, mit einer Fotostrecke von Park und See, von Freizeitanlagen und hellen Häusern. Plötzlich empfand ich eine große Sehnsucht danach, einmal hinzufahren und selbst zu sehen, wie all das geworden war. Also bin ich gekommen.
Ich stand am Ufer, ein leiser Wind kräuselte das Wasser, Segelboote waren unterwegs, es sah alles so heiter aus. Aber ich erkannte nichts wieder. Die Gegend, wo ich zu Hause gewesen war, war verschwunden.
Mir wurde ein bißchen elend, und ich ließ mich auf die nächste Bank am See sinken. ‚Es hat sich sehr verändert’, sagte jemand ganz in der Nähe, mit einer leisen, wie gedämpften Stimme, als spräche er durch einen dicken Vorhang. Ich fuhr erschrocken herum; neben mir stand eine sonderbare Erscheinung, ein junger Mann, mager und blaß. Er zog ein Waschbecken auf Rädern hinter sich her. Ich starrte ihn an. ‚Erkennen Sie etwas wieder?’, fragte er und zerrte die Keramikschale näher zu sich. ‚Es sah doch alles ganz anders aus früher’, fuhr er fort, ‚nicht wahr, Sie wissen das, Sie haben doch auch hier gelebt’, und dann trat er mit seinem Becken an die Rückenlehne der Bank und machte eine Bewegung, als wolle er meinen Kopf hintenüber ziehen. Ich erschrak sehr, wer war diese merkwürdige Gestalt, was hatte sie vor?, aber dann warf ich noch einen Blick auf das Waschbecken und erkannte ihn wieder. Es war der Friseur, der damals so plötzlich aus dem Ort verschwunden war. Er wirkte ganz unverändert, gar nicht älter geworden, und es waren doch Jahre vergangen.
‚Ich erinnere mich an Sie’, sagte ich, ‚Sie hatten so wunderbare Hände, behutsam und doch zupackend, ich weiß es genau.’
Er schien erfreut, ‚o ja’, gab er zurück und ließ sich neben mir auf der Bank nieder, ‚das sagten alle, ich habe so viel spüren können mit meinen Fingern, ich spürte, was sie empfanden, wie sie sich fühlten, ob sie froh oder traurig waren, alles drang durch meine Fingerkuppen, sobald ich ihre Kopfhaut berührte. Ich wollte durch meine Hände ihre Gedanken lesen, aber es ist mir nicht gelungen, und nun muß ich es immer und immer wieder versuchen’, und da ich ihn wohl erstaunt ansah, sprach er weiter - ‚was man sich vorgenommen und nicht getan hat, das muß man ausführen; alle offenen Vorsätze müssen erledigt werden, sonst findet man keine Ruhe. Aber’, setzte er noch hinzu, und er sah mit einem Mal so traurig aus, ‚ich kann den Frisiersalon nicht mehr finden, es ist alles so anders geworden.’
Im nächsten Moment spürte ich wieder dieselbe Empfindung wie an den letzten Tagen in Daniels Haus, eine Gegenwart von etwas, das man nicht sah. Ich schaute mich erschrocken um, und dann erblickte ich in einiger Entfernung jemanden näher kommen, er ging zögernd, fast ein wenig schwankend, und sah sich um, als ob er etwas suche. Es war etwas Merkwürdiges an ihm.
‚Er findet auch den Ort nicht wieder, an den er zurückkehren muß’, sagte der Friseur, ‚ich sehe ihn jeden Tag hier. Ich weiß nicht, was er Ungetanes zu erledigen hat, er kann es nicht sagen, der Strick hat ihm die Kehle zerstört’, und bedrückt schaute er zu, wie der Mann an uns vorbei stolperte und immer verzweifelter um sich blickte. Nur einmal wandte der Verstummte noch den Kopf, und erst, als seine Augen mich trafen, erkannte ich ihn, und für den Bruchteil einer Sekunde hat auch er mich erkannt.

     Ich sah ihm nach, wie er sich entfernte und dabei noch immer in der schönen neuen Landschaft nach einem Fetzen des Vertrauten suchte, nach einem winzigen Stück, das er hätte wieder erkennen können. Nach dem kleinen Apfelbaum, dessen erste Früchte er nach einem selbst gesprochenen Urteil ernten mußte. Ich sah ihm nach, bis er nicht mehr von den Figuren der Spieler auf dem Golfplatz zu unterscheiden war.
Der Friseur war aufgestanden und griff jetzt wieder nach seinem Waschbecken.
‚Ich muß weiter’, sagte er, aber in seinem Blick war keine Hoffnung auf Erlösung.
 
 
© 2019 Dorothea Renckhoff