Hervorragend gemacht … und ungemein erschreckend

„Border“ von Ali Abbasi

von Renate Wagner

Border
(Gräns - Schweden, Dänemark 2018)

Regie: Ali Abbasi
Mit: Eva Melander, Eero Milonoff u.a.
 
Ist es wirklich ein „Fantasy-Drama“, wie Wikipedia den schwedischen Film „Border“ nennt, der von einem iranischen Regisseur gedreht wurde – oder ist es nicht eher Horror vom Feinsten und Schrecklichsten? Normalerweise sind Filme dieser Art ja nach immer denselben simplen Mustern gestrickt, und die Versuche, den Kinobesucher in Angst und Schrecken zu versetzen, so primitiv und schematisch, daß man die ganze Freude an der Sache verloren hat.
Bis „Border“ kam…, der Film, den Schweden heuer zum Auslands-„Oscar“ schicken wollte, der aber nicht in die engere Auswahl kam. Vielleicht eines noch rasch zur Verständnis dieses Genre-Mixes von Film vorausgeschickt: Die Skandinavier glauben an „Trolle“. Nicht diejenigen, die im Internet ihr Unwesen treiben, sondern sie halten „Zwischenwesen“ für eine Realität (Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde…)
Es beginnt – normal. Auf einer schwedischen Zollstation, dort, wo die Fähren anlegen. Wenn man Tina in der Uniform einer Beamtin erblickt, die auf die Ankommenden wartet, will man zuerst wegsehen, weil man ja gelernt hat, Behinderte oder optisch Ausgegrenzte nicht anzustarren. Tina ist mit ihrem geradezu tierischen Gesicht ein furchtbarer Anblick. Und sie hat auch, wie man schnell begreift, eine „tierische“ Eigenschaft: Sie kann Angst wittern. Reisende, die sie mit ihrem Gepäck hervorholt, haben etwas zu verbergen. Der Beweis wird schnell angetreten, als ein scheinbar sorgloser Geschäftsmann, der gerne seine Tasche durchsuchen läßt, zu paniken beginnt, als Tina sein Handy verlangt. Dann will er die Speicherkarte sogar schlucken. Kinderpornos sind darauf gespeichert, Sexhandel mit Kindern stellt sich im Lauf des Geschehens heraus. Das ist ein starkes Krimi-Element, das den Film am Rande begleitet.
 
Wer ist Tina? Anfangs bedeutet „Border“ nur die Grenze, an der sie arbeitet. Bald wird sie persönlich als Grenzfall des Menschlichen erkennbar. Sie lebt in einem Holzhaus am Land, hat einen unsympathischen Freund, der mit seinen Kampfhunden bei ihr lebt und sie ausnützt, wie ihr alter Vater ihr sagt, den sie immer wieder einmal im Altersheim besucht (und der später ein Geheimnis zu beichten hat). Tina ist ihr Mitbewohner, mit dem sie gelegentlich Sex hat, egal, besser als allein sein. Beruflich wird sie trotz ihrer abstoßenden Erscheinung akzeptiert. Aber wer ist Tina?
Der Kinobesucher spürt, daß er ihrem Geheimnis näher kommt, als sie Vore aus dem Strom der Reisenden herausholt. Vore, der aussieht wie sie, ein Zwitterwesen ist und den sie zu sich nach Hause nimmt. Die beiden sind Trolle. Ein Fehler in der DNA, der ihre Abweichung erklärt, meinen die Ärzte. Sie sind Semi-Menschen, an denen die Medizin (mit großem Interesse und wenig Gewissen) die interessantesten Experimente durchführt, ohne daß man die Absonderlichkeiten aller Art erklären kann. Regisseur Ali Abbasi, gebürtiger Iraner, zieht die Schraube schnell ganz hart an, nicht nur in einer schrecklichen Sexszene zwischen den beiden.
 
Die Verbrechen, die am Rande ihrer Schicksale auftauchen, sind in ihren Schockeffekten schwer zu ertragen. Auch wird keinesfalls das alte Muster gestrickt, daß die Außenseiter auf jeden Fall die Bemitleidenswerten und die „Guten“ sind, mitnichten. Wenn es dem Zuschauer ein paar Mal den Magen umgedreht hat, ist er bereit, so manches zu glauben. Und stößt den Film innerlich dennoch nicht ab, weil er so hervorragend gemacht ist.
Natürlich liegt das Gelingen des Unternehmens nicht nur an der handwerklichen Geschicklichkeit der Regie, die nie mit primitiven Mitteln arbeitet. Die Hauptdarstellerin macht es – dabei ist die Schwedin Eva Melander, die Privatfotos zeigen es, eine normal-hübsche Frau. Für die Verwandlung in die figürlich stockige „Tina“ nahm sie 20 Kilo zu, verbrachte täglich vier Stunden in der Maske und gab ihr darstellerisch eine so rätselhafte Unbewegtheit, daß man nie das Gefühl bekommt, sie zu kennen. (Der höchste schwedische Filmpreis war ihr sicher – und mehr als verdient.) Ähnlich Überzeugendes gelingt dem Finnen Eero Milonoff mit dem androgynen Vore, der allerdings a priori wie Frankensteins Monster wirkt.
Ja, die Trolle. Wer je in Skandinavien gereist ist, wird sich hüten, seine Zweifel an ihrer Existenz zu äußern. In diesem Film jedenfalls sind sie ungemein lebendig… und ungemein erschreckend.
 
 
Renate Wagner