Vom „Kastenmenneken“ zum „Pumpernickel“

Volksetymologisches

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Vom „Kastenmenneken“ zum „Pumpernickel“
 
Volksetymologisches
 
Von Heinz Rölleke
 
In Else-Lasker-Schülers Schauspiel „Die Wupper“ ist zweimal von „Kastenmännekens“ die Rede – ein Wort, das man heutzutage wohl auch im Bergischen erklären muß. Die Mutter Pius wird als eine Art Finanzgenie angesehen, denn „wie en Spezialdoktor weiß se mit de Kastenmännekens Bescheid“ - aber sie weist später die Bettler ab: „Ich hab von Tag nich en Kastenmänneken über“, das heißt, mir ist von meinen Tageseinnahmen nicht eine kleine Münze übrig geblieben. Als „Kastenmenneken“ bezeichnete man in Wuppertal das kleinste Geldstück. „Menneken“ geht wohl auf die Reversgestaltung der Münze (Kopf eines Mannes) zurück; was aber hat die Pfennigmünze mit einem „Kasten“ zu tun? Ursprünglich nur wenig, denn man verstand unter „Kassemännchen“ die sprichwörtlich kleinste Münze, die zuletzt als Kassenbestand verblieb. Diese Bedeutung verblaßte im volksläufigen Umgang mit der Bezeichnung, und man lehnte es nach vertrauteren Vorstellungen an das Wort „Kasten“ - wie es etwa im Kompositum „Kastenkerl“ (Hausierer) begegnet - an (man denke besonders an die vielen Geldkästen, die früher im Gebrauch waren, oder das Geflügelte Wort aus der Reformationszeit: „Sobald das Geld im Kasten klingt...“).
 
Die Wandlung vom „Kassemännchen“ zum „Kastenmänneken“ erfolgte im Lauf der Sprachentwicklung nicht organisch, sondern durch eine etymologisch nicht vorgegebene Anlehnung an ein anderes, ähnlich klingendes Wort. Eine den Sprechern etymologisch immer undurchsichtigere Form wird volkstümlich umgedeutet. Der Vorgang stellt sich häufig ein, wenn ein Wort ausstirbt und allmählich unverständlich wird. So hat der „Maulwurf“ bei seinen Wühlarbeiten weder früher noch heute die Erde mit seinem „Maul“ bearbeitet und zu einem Hügel hochgeworfen; er wurde früher als „molt-werf“ bezeichnet, das heißt, ein die Erde aufwerfendes Tier. Wie noch aus vielen Ortsbezeichnungen ersichtlich, bedeutete das längst ausgestorbene Wort „molt“ nämlich Erde oder Erderhebung (Detmold ist ein von der „diet“, dem Volk, bewohnter Hügel). Bei der Bezeichnung der Tiere, deren Gewohnheiten man kaum genauer kannte, sind solche volksetymologischen Bedeutungsveränderungen besonders häufig zu beobachten. Die „Bachstelze“ hat weder etwas mit Bächen zu tun, noch zeichnet sie sich durch einen charakteristischen Stelzgang aus, und die „Grasmücke“ hat keine besondere Affinität zu Rasenflächen, und sie gehört schon gar nicht zu Spezies der Mücken. Tatsächlich hat man früher diese Tiere nach ihren spezifischen Bewegungen genannt, und zwar die Bachstelze als das, was man heute mundartlich noch einen „Wippstert“ nennt (von mittelhochdeutsch „wage“ = Bewegung und „starz“ oder „sterz“ = Schweif), die Grasmücke (gra-smücke) nach ihrer Färbung (mhd. „gra“ = grau) und ihrem Verhalten („smucka“ = Schmiegerin). Durch volksetymologische Umdeutung fehlgeleitet, erschrickt mancher, wenn er zu seiner Überraschung in den Bergen plötzlich den charakteristischen schneidenden Pfeifton dieser Tiere hört; von einem murmelnden Tier hatte man sich anderes vorgestellt, wenn man nämlich vom „Murmeltier“ entsprechende Laute erwartete. Als das Tier noch „murmunto“ (nach lateinisch „mure montis“ = Bergmaus) hieß, waren solche Mißverständnisse ausgeschlossen. Sehr unrecht tut man neuerlich mit ihren Namen der „Heuschrecke“ und dem „Vielfraß“, denn erstere hat nichts mit „erschrecken“ zu tun, wohl aber mit mhd. „schrecken“ = springen (sie ist also ein „Heuspringer“ oder „Heuhüpfer“ - eine Bezeichnung, die hier und da noch gebräuchlich ist); letzterer ist kein unmäßiger Fresser, vielmehr bezeichnet sein aus dem Norwegischen eingewanderter Name („fjeldfross“) den recht genügsamen „Bergkater“. Hier wären noch manche Tierbezeichnungen anzuführen, etwa das „Rebhuhn“, das nichts mit Reben, ursprünglich aber mit dem Adjektiv „rap“ (schnell) zu tun hat, der „Seehund“, dessen erster Wortteil auf mhd- „sele“ oder „seel“ (Robbe) zurückgeht, oder gar der auch als Schimpfname gebräuchliche „Windhund“, der nach seiner Herkunft aus dem Land der „Wenden“ bezeichnet ist. Den hier einschlägigen Tierbezeichnungen „Eidechse“, „Eichhorn“, „Ren(n)tier“, „Wiedehopf“ und manchen anderen kann man in einschlägigen Wörterbüchern (Friedrich Kluge, Hermann Paul) nachgehen.
 
Merkwürdig ist die volksetymolgische (Um)Deutung am Werk, wenn sie ein unverständlich gewordenes Wort fast gewaltsam an neueren Erklärungsmöglichkeiten festzumachen sucht. Ein Paradebeispiel ist die Bezeichnung des berühmt-berüchtigten westfälischen Schwarzbrots mit dem Namen „Pumpernickel“. Der berühmte Barockdichter Grimmelshausen führt 1669 in seinem „Simplizissimus“-Roman die ihm wohl auch rätselhafte Bezeichnung auf „Nickel“ (ein aus Nikolaus verkürzter Schimpfname) und die derbe Bezeichnung „pumpern“ (furzen) zurück. Der große Sprachforscher Adelung gibt 1777 dieser Herleitung recht, indem er auf die Wirkung dieses Brotes, das „wegen der bey sich habenden Kleye einem ungewohnten Magen leicht Blähungen verursachen kann“, verweist. Diese sprachwissenschaftliche Herleitung und Erklärung hat der Volksphantasie kein Genüge getan. Als französische Soldaten 1635 bis 1639 Westfalen besetzt hielten, entlehnten sie das Wort mit der Sache als „Bonpournickel“, und auf das französische Wort gehen Anekdoten zurück, in denen ein hochgestellter Franzose das westfälische Schwarzbrot mit den Worten ablehnt, es sei nur „bon“ pour einen „nickel“, einen armen Schlucker, oder gar nur für einen heruntergekommenen Gaul, der auf diesen verächtlichen Namen hört.
 
Ähnlich steht es um die auch neuerlich noch vielberufenen „Fisimatenten“ (kölnisch: Fisematentcher“). Das Wort stammt aus der spätlateinischen Sprache der Militärbehörde und ist in Deutschland schon 1499 als „visimetent“ belegt (also damals wohl schon länger im Gebrauch). Es ging um ordnungsgemäß ausgestellte Patente („visae patentes“), deren Erstellung auch seinerzeit schon als umständlich genug gewertet und verspottet wurde. „Visepatentes“ sind daher überflüssige Umwege und Schwierigkeiten. „Macht doch keine Fisimatenten“ meint daher: Macht keine unnützen Faxen, keinen Blödsinn, vor allem keine sinnlosen Umständlichkeiten. Letzteres wurde durch die Begriffe „visament“ und „fisiment“ (überflüssiger Zierrat an Wappenbildern) gestützt. Das alte Wort selbst wurde von den französischen Besatzern zwischen 1794 und 1814 in Deutschland (erneut) eingeführt. Hier entwickelte sich zur Erklärung des unverstandenen Fremdworts eine köstliche Anekdote: Französische Soldaten versuchten deutsche Mädchen in ihre Zelte zu locken, und zwar mit der Einladung „Visitez ma tente“. Eltern, die ihre Töchter vor möglichen Gefahren warnen wollten, gaben diesen als Ratschlag mit auf ihren abendlichen Ausgang: „Aber macht ja keine Fisi ma tenten“ - das wären Faxen, die üble Folgen haben könnten, zumal das Wort „Fisi“ auch unwillkürlich an mundartlich „fies“ angelehnt wurde. Das also ist eine typisch volkskundliche Verdeutlichung, leider nur erfunden und zu schön, um wahr zu sein. Denn der kreative, wenn auch noch so 'falsche' Umgang mit der Sprache ist ja doch zu allen Zeiten eine fruchtbare und interessante Sache. “Blümerant“, schwindelig oder gar sterbenskrank, fühlte man sich nach dem im 17. Jahrhundert übernommenen französischen „bleu-morant“ (mattblau, sterbensblau); die neuerlich im mündlichen Sprachgebrauch begegnende, aber noch in keinem Lexikon nachgewiesene Form „plümerant“ ist vielleicht an Plumeau und damit auf Umwegen an 'Bett' und 'Krankheit' angelehnt.
 
Eine Menge volksetymologischer Umdeutungen kommt aus dem Kriegs- und Sodatenwesen (auch hier gilt ein wenig die altgriechische Weisheit, daß der Krieg der Vater aller Dinge sei). Die oft ungebildeten Rekruten legten sich die ihnen unverständlichen Begriffe nach ihrem Verständnis zurecht, von denen sich einige in der Hochsprache durchsetzen konnten. Die heute noch in der Schweiz in Blüte stehende „Armbrust“ hat ursprünglich mit den menschlichen Körperteilen nichts zu tun, sondern ist eine Verballhornung aus lateinisch „arcuballista“ (mit einem Bogen versehene Schleuder). Als das Wort nicht mehr verstanden wurde, lehnte man die Bezeichnung an ein ähnlich klingendes deutsches Wort an, wobei man insofern diesmal nicht ganz fehl ging, als bei der Bedienung der Waffe „Arm“ und „Brust“ irgendwie beteiligt sind. Der vom Feldherrn (im Feld!) bei der Manöver- oder Schlachtbeobachtung benutzte „Feldstuhl“ ist der alte „Faltstuhl“ (Klappstuhl für alle möglichen Gelegenheiten). Die als typisch preußisch geltende „Pickelhaube“ erhielt ihren Namen erst, als die ursprünglich als „Beckenhaube“ bezeichnete soldatische Kopfbedeckung diese Form annahm. Schließlich war man im „Verlies“ verloren; die Bezeichnung ist zwar an “verlassen“ angelehnt, hat aber ursprünglich nichts damit zu tun.
 
Wenn es um Veränderungen von Ortsbezeichnungen geht, sind die volksetymologischen Spuren besonders häufig. So gehen im ganzen deutschen Sprachgebiet die zahllosen „Rosenstraßen“ oft auf die ältere Bezeichnung als „Rotestraßen“ zurück, die den Weg zur Hinrichtungsstätte kennzeichneten. Berühmt blieb der Name der rheinlandpfälzischen Stadt „Katzenel(le)nbogen“ wegen seines geradezu abenteuerlichen Verdeutschungsversuchs der alten Bezeichnung „Cattimelibocus“; das war die Bezeichnung eines Berges im Gebiet des germanischen Stammes der Chatten, und die hat mit Katzen und Ellenbogen nicht das Geringste zu tun – so wenig wie der deutsche Name der Sauerkirsche „Schattenmorelle“ mit Schatten (im Gegenteil: auch diese Frucht braucht vor allem Sonne). An den originellen französischen Herkunfts- und Ursprungsnamen (sei er nun „Château de Moreille“ oder „Chatel Morel“) wollte man im Deutschland des 17. Jahrhunderts offenbar verzichten. Und auch hier verdrängte die phantasievolle Volksetymologie eine alte und jedenfalls zutreffende Bezeichnung.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2018