Die 15 Jahre von Sodom

Nathalie Boegel – „Berlin - Hauptstadt des Verbrechens“

von Frank Becker

Die 15 Jahre von Sodom
 
Das verbrecherische Berlin
der Weimarer Republik
 
Man hat schon viele Abhandlungen über die „Goldenen Zwanziger“ Berlins gelesen und Filme gesehen. Die Zahl der Bücher zum Thema ist Legion. Nun aber ist ein neues Buch auf den Markt, das die Lektüre vieler anderer obsolet macht. Die Journalistin Nathalie Boegel hat es geschrieben und damit quasi ein Handbuch dieser Epoche vorgelegt, das mit Sachlichkeit, äußerst präzisen Recherchen, klarer Sprache und seiner Übersichtlichkeit besticht, wobei es sich aber auch äußerst unterhaltsam liest: „Berlin, Hauptstadt des Verbrechens“.
In ihrer brillanten, trotz der erfreulich geringen Seitenzahl tiefgehenden Analyse zieht Nathalie Boegel zieht eine kluge Bilanz der 20er Jahre in der nach der Depression als Folge des 1. Weltkriegs und nach den ersten Umsturzversuchen von rechts wie links schier wie entfesselt brodelnden Hauptstadt des Deutschen Reichs. Die lange unterschätzten Auswirkungen des grauenhaften „ersten Maschinenkriegs“ auf seine Teilnehmer an den Fronten, die Soldaten, die traumatisiert oder versehrt in zerstörte Existenzen und Familien zurückkamen, trugen wie die Befreiung von kaiserlicher Zensur und Zucht ihren Teil dazu bei, besonders in Berlin eine Entwicklung loszutreten, die zur Auflösung bürgerlicher Moral im Sinne von Plautus führte: Lupus est homo homini. Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot sind weitere Zündschnüre der fatalen Entwicklung.
 
In den Jahren von 1918 bis 1933 tobte in Berlin nicht nur das verruchteste, tabuloseste Nachtleben der Welt, organisierten sich Verbrecher in Vereinigungen, den sogenannten Ringvereinen („Immertreu“, „Norden“, „Deutsche Kraft“ etc.) und konnten sich politisch-militärisch extreme Bünde wie „Stahlhelm“ und „Schwarze Reichswehr“ organisieren, auch gewaltbereite Parteien wie KPD und NSDAP konnten sich während dieser 15 Jahre frei entfalten. Der politische Kampf zwischen Nazis und Kommunisten wurde mit unglaublicher Brutalität auf der Straße ausgetragen, während die Polizei aufgrund ihrer schwachen politischen Position, schlechter Ausrüstung, zu wenig Personal und korrupter Führungen kaum in der Lage war, ihren Aufgaben gerecht zu werden.
 
In diesem Klima konnte sich das Verbrechen, konnten Verbrecher fast ungehindert ihr Unwesen treiben. Immer mit der innen- und sicherheitspolitischen sowie der Wohnungs-Situation im Blick („Man kann mit einer Wohnung töten“) schildert Nathalie Boegel die spektakulärsten Kriminalfälle aus Berlins entfesselten 20er Jahren, die auf Zeit golden eigentlich nur für Verbrecher, Spekulanten und Politiker waren.
Glücksritter, Betrüger und Hochstapler, Diebe, Räuber und Geldschrankknacker zieht die brodelnde Stadt ebenso an wie Zuhälter, Serien-Mörder und Perverse. Zehntausende Berliner verlieren ihr Vermögen an den Wettbetrüger Max Klante, der bibliomane Meisterdieb Karl Friedrich Bernotat trägt eine unerhört wertvolle Bibliothek zusammen, die Brüder Sklarek bestechen Politik, Verwaltung und Polizei bis in höchste Kreise, um ihre gigantischen Betrügereien zu verschleiern – und stürzen mit den Korrumpierten.
Mordanschläge auf die Politiker Matthias Erzberger, Walther Rathenau und Philipp Scheidemann sowie die Polizeioffiziere Paul Anlauf und Franz Lenck (erst 62 Jahre später konnte der Mörder Erich Mielke, nach dem 2. Weltkrieg StaSi-Chef der DDR vor Gericht gestellt werden) erschüttern die Stadt, man fürchtet sich vor einem mysteriösen Serien-Mörder in Zugabteilen und der brutalen „BVG-Bande“, während die gewaltlosen Einbrecher und „Schränker“, die Gebrüder Sass, von einer Welle der Bewunderung getragen wurden.
 
Nathalie Boegel beschreibt aber auch die Erfolge und den Aufstieg des wohl berühmtesten Kriminalkommissars jener Zeit, des legendären Ernst Gennat, dessen kriminalistische Methoden zu einer unglaublich hohen Aufklärungsquote bei Morddelikten führten. Und sie erzählt von einem ebenso legendären Strafverteidiger, der nicht nur Ringvereine wie „Immertreu“ vertrat, sondern auch einige Massenmörder und die Schönheitstänzerin Lola Bach: Dr. Dr. Erich Frey. Auch den rücksichtslosen Aufstieg des Berliner NSDAP-Gauleiters Joseph Goebbels, der zu einem der schlimmsten Menschheitsverbrecher der Geschichte werden würde, beschreibt sie. Sie legt aber auch wiederholt den Finger in eine Wunde, die auch die Bundesrepublik Deutschland betrifft, daß nämlich eine schwache Demokratie, in der die absolute individuelle Freiheit des Einzelnen über den Bestand des Staates gestellt wird, allzu leicht den Staat dem Verbrechen und politischem Extremismus ausliefert.
 
Gestützt auf die maßgeblichen literarischen Dokumente zu den 20ern, wie die Erinnerungen Erich Freys und Hedda Adlons, Bücher von Mel Gordon, Walter Kiaulehn. Livia Prüll, Regina Stürickow, Werner W. Malzacher u.a.m. (nicht jedoch Sling, d.i. Paul Schlesinger) hat Nathalie eines der wohl besten Bücher zum Thema geschrieben. Dafür unser Prädikat, den Musenkuß.
 
Nathalie Boegel – „Berlin - Hauptstadt des Verbrechens“
Die dunkle Seite der Goldenen Zwanziger
© 2018 DVA / Spiegel Buchverlag, 288 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, mit etlichen interessanten s/w-Abbildungen - ISBN: 978-3-421-04832-5
20,- €
 
Weitere Informationen:  https://www.randomhouse.de/