Tomi (Jean Thomas) Ungerer †

Ein Porträt

von Joachim Klinger

© Joachim Klinger
Tomi (Jean Thomas) Ungerer
(1931-2019)
 
Bei manchen Künstlern sollte man ihre Lebensgeschichte mit den vielfältigen Erlebnissen und Erfahrungen näher kennenlernen, bevor man sich ihrem Schaffen annähert. Tomi Ungerers Lebensstationen zeigen einen engen Zusammenhang mit der künstlerischen Produktion. Deshalb muß man sich dem Curriculum Vitae zuwenden.
Tomi Ungerer wurde 1931 in Strasbourg geboren, trampte nach dem Schulabschluß zwei Jahre lang durch ganz Europa, arbeitete zeitweise auf einem isländischen Heringsdampfer und beim Kamelreiter-Korps in Algerien, bis er 1953 nach Strasbourg zurückkehrte und an der „Ecole Municipale des Arts Décoratifs” ein kurzes Kunststudium aufnahm (Angaben entnommen dem „Karikaturisten-Lexikon” von Kurt Flemig, Verlag K.G. Saur, München 1993 S.298 und „Wer zeichnet wie?” von Rolf Karrer-Kharberg, Diogenes Verlag Zürich 1963, S.134 ff.).
 
1956 ging er zum ersten Mal, 1957 auf Dauer in die USA und lebte bis 1970 in New York. Danach ließ er sich mit Frau und Kindern auf der kanadischen Halbinsel Nova Scotia in Lockeport nieder und betrieb eine eigene Farm. 1976 wechselte er nach Südirland und erwarb wieder eine Farm. In Strasbourg hatet er seinen zweiten Wohnsitz.
Wenn man von einem Künstler sagen kann, er sei „äußerst produktiv”, dann trifft das auf Tomi Ungerer in besonderem Maße zu. Im Karikaturisten-Lexikon von Kurt Flemig wird ausgeführt (S.298):
 
          „Allein in den USA illustrierte oder zeichnete T.U. zwischen 1957-70 etwa
         100 Bücher, im Stilwechsel zwischen krasser Zeitkritik und biedermeierlich   
          anheimelnder Atmosphäre …”

© Diogenes Verlag
 
Georg Ramseger (G.R.) sagt in seinem Ungerer-Beitrag zum wunderbaren Katalog „Von Callot bis Loriot” (Blätter aus der Sammlung Karikatur und kritischer Grafik des Wilhelm-Busch-Museums Hannover, herausgegeben von Herwig Guratzsch, Verlag Gerd Hatje, Stuttgart 1991, Ausstellungen in Hannover 1991/92 in Hannover und Krefeld) auf Seite 200:
 
          „Er reiste also nach Amerika – Thurber und Steinberg gut im Hinterkopf.
          Es wird ein Rätsel bleiben, wie er es schon nach einem Jahr schaffte, einen
          Verleger für sein erstes Kinderbuch zu finden. Agenturen aufzutun, die ihm
          Werbeaufträge gaben, prompt Liebkind zu werden bei Organen wie Esquire,
          Life, Holiday etc. oder Zeitungen wie der New York Times. Er war noch keine
          dreißig, als er von Amerika aus Europa eroberte mit seinem ersten Buch
          „Der schönste Tag”, erschienen im Diogenes Verlag …”
 
Also, eine Erfolgsgeschichte sondergleichen! Das „Rätsel” des kometenhaften Aufstiegs möchte ich aus heutiger Sicht mit der Mutmaßung beantworten: gewinnendes Auftreten und überzeugende künstlerische Leistungen. Höchste Qualität auf verschiedenartigen Gebieten: Karikatur, Illustration, Werbegrafik, Gesellschaftskritik, zeichnerische Darstellung von Landschaften, Menschen, Tieren und anderes, was sich einer klaren Zuordnung entzieht. In einer Ungerer-Biografie müßten diese Bereiche jeweils ausführlich in einzelnen Kapiteln behandelt werden.
 

© Wilhelm Heyne Verlag
In der Karikatur beginnt Ungerer mit kleinen hingekritzelten Figuren, die wie z.B. bei J.J. Sempé, Bosc oder Thurber „offengehalten” werden. Das heißt, die Linie umschließt die Form nicht ganz, sondern hört dort auf, wo man sich alles Weitere denken kann. Köstlich z.B. die Zeichnung eines Autofahrers, der seinen Fuß stolz auf die Brust des Unfallopfers setzt und seine Siegerpose beibehält, obwohl ein Verkehrspolizist ihn energisch zur Rede stellt (vgl. „Wer zeichnet wie?” S.137).
 
Auch die Kinderbücher der „Mellops” – eine Schweinefamilie – wird gekennzeichnet durch einfache und leichte Strichführung. Aber gerade im Bereich des Kinderbuches entwickelt Ungerer mit der Zeit einen charakteristischen Stil starker Farbigkeit und großzügiger Formensprache, der mit Recht den Beifall der Kinder findet. Hier kommt Ungerer zugute, daß er ein Meister der Plakatkunst ist und offenbar von Toulouse-Lautrec, Mucha und anderen gelernt hat. Seine kräftige Linienführung, seine Beherrschung der Fläche und der Einsatz leuchtender Farben gelangen auch auf Titelblättern großer Illustrierten zur Geltung. Er übertrifft dabei bisweilen die delikate, immer ein wenig verspielte Kunst großer Kollegen wie J.J. Sempé und Walter Trier.
 
Bücher Tomi Ungerers (meist auch von ihm selbst geschrieben) wie „Die drei Räuber”, „Das Biest des Monsieur Racine”, „Der Mondmann” und „Der Hut” sind Klassiker der Kinderbuch-Literatur geworden. Dabei ist bemerkenswert die Mischung altmodischer Accessoires mit heiter-komischen Einfällen, die in bunter Reihenfolge über die Buchseiten purzeln. Immer gibt es Anlaß zum Lachen, zum Schmunzeln und zum Nachdenken über den skurrilen, hintergründigen Humor.
Ungerer verfährt im Einsatz der künstlerischen Mittel durchaus traditionell. Die Experimentierfreude seines Kollegen Wolf Erlbruch, der sich phantasievoll farbiger Versatzstücke mit Mustern und Objekten bedient und Collagen herstellt, kennt er nicht. Gleichwohl sind die Ergebnisse seiner Kreativität, wie sie sich in einer großen Zahl prächtiger Kinderbücher manifestieren, erstaunlich und beeindruckend.
 
Finden wir in diesen Werken aber auch Amerika? Weniger! Das ist ganz anders im Bereich der Gesellschaftskritik. Hier erkennt man, wie tief Ungerer in den Lebensstil der Amerikaner geblickt hat und wie weit er in die Niederungen gesellschaftlicher Usancen vorgedrungen ist.
Jede Nachsicht ist Ungerer fremd, er entlarvt schonungslos und – was der Karikaturist darf! – er übertreibt. Wenn er eine Lady mit Hut zeichnet, dann ist das eine abgetakelte Alte mit verkrampften Mündchen, eine Perlenkette um den faltigen Hals und schwarzen Augenlöchern, aus denen einige Stacheln sprießen (vgl. „Von Callot bis Loriot” S.201). Ein verzerrtes Grinsen macht aus dem Gesicht eine Fratze des Elends und der Bösartigkeit. Georg Ramseger schreibt dazu (a.a.O.S.200):
 
          „ … ein Beispiel unter Tausenden von widerwärtigen Visagen weiblichen
          und männlichen Geschlechts, die er aufs Papier bannte, um uns anzufüllen
          mit der Abscheu vor uns selber …”
 

 © Diogenes Verlag
Aber Tomi Ungerer geht nocht weiter. Er blickt auf ausschweifende Gesellschaftsspiele, auf die ständige Suche nach Steigerung der Lustgefühle, auf abartige Triebe und deren Befriedigung. Brennen bei Egon Schiele die mageren Akte in sexueller Begierde, so experimentieren Ungerers Gestalten auf unterschiedlichste Art und Weise – sadistisch, masochistisch, pervers – aus Sex-Gier. Eine schauerliche Maschinerie der Masturbation wird in Gang gesetzt. Von Félicien Rops (1833-1898) kennen wir hinreißende Zeichnungen aus der Prostituierten-Welt – eine gewaltige Woge der Wollust. Ungerers Darstellungen mögen verwirrte Geister anstacheln, alle anderen werden sie nach anfänglichem Interesse verstört oder erschüttert, angewidert oder abgestoßen aus der Hand legen. Das ändert nichts an ihrem Wert; es sind Röntgenaufnahmen unserer Zeit. Die Bücher „Fornicon” und „Der Sexmaniak” lassen eine Hölle aufscheinen, vor der wir unsere Augen nicht verschließen können.
 
Wie wohltuend, danach Ungerers Zeichnungen vom Landleben zu betrachten! Gehöfte und Karren, weidende Kühe – der Künstler muß die Abgeschiedenheit seiner Farmen nach der Abkehr von New York genossen haben. Und wir genießen seine ruhevolle Idylle.
Vor mir liegt der Katalog „Vom Duell zum Duett” zu der Strasbourg-Ausstellung 2013, mit der die deutsch-französische Freundschaft gefeiert wurde. Das Titelbild von Tomi Ungerer zeigt die etwas üppige nackte Gestalt der deutschen Germania im Tanz mit der gleichfalls nackten französischen Marianne. Ein würdiges Denkmal für Tomi Ungerer selbst!
 
Tomi Ungerer starb in der Nacht zu gestern in Cork/Irland.
 

© Diogenes Verlag

Mehr von und über Tomi Ungerer in den Musenblättern → hier

Redaktion: Frank Becker