Das Atom (2)

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Das Atom (2)

Von Ernst Peter Fischer
 
Die Atome Cäsars
 
Es ist natürlich schwer, sich solche Zahlen, die Mathematiker und Physiker ausrechnen können, die große Exponenten haben, also 1020, 1023, 1050 Atome, die in irgendeinem Glas vorhanden sind, vorzustellen. Aber man kann sich ein paar einfache Dinge zur Veranschaulichung vorstellen. Wenn Sie zum Beispiel ein Glas mit Wasser nehmen und dieses Glas irgendwo in München oder in Hamburg oder in Los Angeles ausschütten und warten, bis sich dieses gesamte Wasser in der ganzen Welt - in allen Wolken, in allen Meeren, in allen Flüssen, in allen Badezimmern, in allen Wassergläsern - verteilt hat, und dann an irgendeinen Wasserhahn gehen, meinetwegen in Moskau, und ein Wasserglas füllen. jetzt können Sie fragen: Wie viele von den Atomen oder Molekülen, die ursprünglich in dem Wasserglas waren, sind jetzt in diesem Wasserglas? Sie werden wahrscheinlich denken: Gar keins. Die Antwort ist: Tausend. Tausend Moleküle sind da drin. Das ist doch eine ungeheure Überraschung!
     Es gibt noch die andere, einfache Fragestellung: Als Cäsar ermordet wurde, da soll er ja bekanntlich „Auch du, mein Sohn Brutus“ ausgehaucht haben, Wenn man Brutus“ sagt, strömt etwas Luft aus. Wenn Sie jetzt die Atome, die in diesem letzten Hauch von Cäsar waren, nummerieren und markieren könnten und dann fragen: Wie viele von den Atomen, die Cäsar ausgehaucht hat, sind in dem Raum, in dem ich jetzt bin? Dann würden Sie sagen: Überhaupt keins. Die Antwort ist: Doch, etwa hundert.
     Das heißt: Wir sind von hundert „Cäsar-Atomen“, die er ausgehaucht hat, umgeben. Von den anderen will ich gar nicht erst reden.
     Also, Atome sind ungeheuer klein, ungeheuer vielfältig. Aber was sind sie jetzt in Wirklichkeit? Wie kann ich sie erfassen? Kann ich ein Atom betrachten?
     Klar ist - das weiß man auch seit etwa hundert Jahren -, daß Atome tatsächlich geteilt werden können. Sie bestehen aus dem Kern, von dem ich gesprochen habe, dem Atomkern, in dem die meiste Masse vorhanden ist, und einer Hülle. Ich kann die Teilchen, die in der Hülle sind, die Elektronen, aus dem Atom entfernen und ich kann nachweisen, daß es diese Dinge im Einzelnen gibt. Aber was genau machen die Elektronen eigentlich, wenn sie den Kern umkreisen?
     Tatsächlich hat man immer gedacht, daß die Physik es erlaube, die Bahnen dieser Elektronen auszurechnen. Bis man eines Tages auf die Idee kam, daß man dabei einen gravierenden Fehler machte.
     Die entscheidende Einsicht, welche die Physiker dazu gebracht hat, das Atom zu Verstehen, ist einem jungen Physiker namens Werner Heisenberg gelungen. Sie ist ihm dadurch gelungen, daß er den eigentlichen Gedanken bei diesem Atommodell umgedreht hat. Er War erst 24 Jahre alt. Die Bahn des Elektrons gibt es eigentlich gar nicht, denn ein Elektron hat wahrscheinlich gar nicht die Eigenschaft, eine Bahn zu haben.
     Ich hatte ja schon gesagt: Wir dürfen nicht voraussetzen, daß die Sachen, die wir erklären wollen, schon am Anfang in den Dingen sind, mit denen Wir die Sachen erklären wollen. Also ist Heisenberg auf die Idee gekommen - da wir natürlich nur das Atom in seiner Dynamik Verstehen müssen -, daß die Bahn des Elektrons dadurch entsteht, daß wir sie erfinden, daß wir sie beobachten.

 
Naturgesetze sind das, was wir der Natur vorschreiben
 
Mit anderen Worten: Ein Atom wird plötzlich im Rahmen der modernen Atomphysik die Form, mit deren Hilfe wir die Natur verstehen können. Das Atom ist tatsachlich eine Erfindung von Menschen, die Bahn des Elektrons ist auf diese Weise etwas, was keine konkrete Bahn mehr hat, die ich stoppen kann, sondern eine Verteilung von Zuständen, die ein Atom einnehmen kann. Das Fantastische ist dabei, daß diese moderne Atomphysik genau gezeigt hat, was die große Philosophie von Immanuel Kant im 18. Jahrhundert vermutet hat: Die Naturgesetze sind nicht etwas, was in der Natur ist, sondern die Naturgesetze sind, was wir der Natur vorschreiben.
     Die Atome sind also eine merkwürdige Größe. Sie müssen auch ganz anders verstanden werden, als wir uns das normalerweise denken.
     Sie können sich das noch an einem anderen, einfachen Beispiel überlegen: Sie wissen alle, daß die Elektronen negativ geladen sind, der Kern ist positiv geladen. Schon denken Sie, daß da natürlich ein elektrisches Feld in dem Atom sein muß. Aber für einen Physiker ist es ganz schwierig, über ein elektrisches Feld zu sprechen. Ein Feld kann nur dadurch definiert werden, daß man einen Probekörper in das Feld hält, um die Kraft, die auf ihn ausgeübt wird, zu messen. Aber genau das können wir mit einem Atom nicht tun.
     Ein Atom ist etwas ganz anderes, als wir uns denken. Das Fantastische ist aber, daß wir über das Atom trotzdem etwas wissen. Das wirklich Spannende ist, daß wir an dem Begriff des Atoms festhalten, also an dem Begriff des Unteilbaren, obwohl wir wissen, daß es teilbar ist.
     Mein Verdacht ist deswegen, daß das Atom eigentlich nicht etwas ist, was man empirisch, logisch und quantitativ bestimmen kann, sondern es ist ein Urgedanke des menschlichen Konzepts von Natur überhaupt. Die Psychologen sprechen ja manchmal von einem archetypischen Verständnis der Welt. Ich glaube, daß die Atome archetypisch in uns enthalten sind, um so die Welt zu verstehen. Deshalb sind sie auch schon ganz früh bei den Griechen gefunden worden und deshalb glauben wir ganz fest, daß der Satz, daß die Welt aus Atomen aufgebaut ist, stimmt, obwohl er in dieser Form nicht haltbar ist.
 
 
© Ernst Peter Fischer