Kartenhäuser

Elmar Goerden inszeniert in Bochum Ödön von Horváths "Geschichten aus dem Wiener Wald"

von Frank Becker

Jackpot


Elmar Goerden inszeniert in Bochum
Ödön von Horváths "Geschichten aus dem Wiener Wald"


Regie: Elmar Goerden - Bühne: Silvia Merlo, Ulf Stengl - Kostüme: Lydia Kirchleitner - Licht: Falk Hampel - Tanztraining: Katharina Schüler - Dramaturgie: Meike Heitrich - Fotos: Wolfgang Silveri
Alfred: Uwe Bohm - Die Mutter, Eine gnädige Frau: Martina Eitner-Acheampong - Die Großmutter, Helene: Renate Becker - Hierlinger Ferdinand, Conférencier: Bernd Rademacher - Valerie: Susanne Barth - Oskar: Felix Vörtler - Ida, Emma: Anna Staab - Havlitschek: Benno Ifland - Rittmeister: Manfred Böll -  Marianne: Katja Uffelmann - Zauberkönig: Burghart Klaußner - Tante Henriette, Baronin: Elke Twiesselmann - Erich: Michael Lippold - Der Mister: Franz Xaver Zach - Tänzerinnen: Toni Arendt, Alexandra Verena Große-Katthöfer, Katharina Schüler
Musik: Indigo Streichquartett (Gesa Hangen, Heike Haushalter, Monika Malek, Petra Stalz)

3½ Stunden, eine Pause


Auf dem Rummelplatz des Lebens


Barth/Bohm - Foto © Wolfgang Silveri

Der Vorhang geht auf, und zum Klang der Donauwellen, walzerselig live vom Indigo Streichquartett intoniert, dreht sich auf dem Karussell der Wiener Vorstadt das erste Bild nach vorne: eine Hinterhofidylle mit Parasol, Stenz, besorgter Mama (Martina Eitner-Acheampong) und schrulliger, gehässiger Großmutter (Renate Becker). Glücksritter Alfred (Uwe Bohm), ein Spieler und gewissenloser Frauenheld, brockt sich was ein. Auslöffeln werden es bis zum bitteren Ende die anderen. Ödön von Horváth hat seinem bösen Volksstück (UA 1931) ein Bilderbuch-Panoptikum an österreichischen Charakteren mitgegeben, wie es ein halbes Jahrhundert später und bis heute Manfred Deix in seinen galligen Zeichnungen tut. Elmar Goerden hat sein Personal denn auch im Deixschen Bild besetzt, wobei er "allen weh und keinem wohl" zum Prinzip seiner Inszenierung macht, damit wiederum im Sinne Horváths verfährt. Denn Horváth hat Österreich (UA bemerkenswerterweise in Berlin) mit "Geschichten aus dem Wiener Wald" sein bissigstes Volksstück vorgesetzt.

"It´s only a paper moon...."

Das wie ein Kirmeskarussell Szene um Szene ohne Schminke ins Licht drehende vortrefflich  entworfene Bühnenbild von Silvia Merlo und Ulf Stengl unterstreicht, was Horváth vorführt: alles nur


Vörtler/Ifland - Foto © Wolfgang Silveri
Pappe, Kulisse, Blendwerk. Kartenhäuser. Glück? Liebe? Zufriedenheit? Illusion! An den Menschen darin kleben ihre Fehler, Unzulänglichkeiten und Gemeinheiten wie Pech. Kein schmeichelhaftes Bild für die kleinbürgerliche Gesellschaft, in der wir uns nun umsehen können: Da ist die schon etwas verwelkte Trafikantin Valerie (Susanne Barth), die es sich etwas kosten läßt, von Windhund Alfred rangenommen zu werden. Allmorgendlich stellt sie das Hinweisschild auf die Höhe des Jackpots vor ihre Trafik. Der steigt von Bild zu Bild. Ein retirierter Rittmeister (Manfred Böll) gibt den täglichen Bonvivant. In der Nachbarschaft betreibt der vierschrötige Fleischhauer Oskar (besser als Felix Vörtler kann man sich den kaum vorstellen) mit dem stillen Gesellen Havlitschek (Benno Ifland) sein telekomfarbenes Blutwurst-Geschäft. Dazwischen klemmt sich der Puppenladen vom "Zauberkönig" (Burghart Klaußner), den der Witwer mit der reizlosen Tochter Marianne (Katja Uffelmann zeigt wenig Präsenz) betreibt. Marianne ist dem bigotten Metzger versprochen und läßt für ihn schon mal ihr Haar herunter. Über allem erinnern Ausschnitte eines Werbe-Plakats daran, daß Geiz geil ist.

Das Weib ist ein Rätsel, eine Sphinx...


Gleich wird verlobt... Ensemble - Foto © Wolfgang Silveri
Verlobung an der Donau - Bausparkassen-Akkorde unterlegen suggestiv die Familiengründung. Burghart Klaußners Verlobungsrede ist ein Schmankerl von ebenso besonderer Güte wie später seine Pantomime beim Heurigen und die selbstgerechte "Abrechnung" mit Marianne. Klaußners Spiel ist eine Offenbarung. Seiner Garderobe (Lydia Kirchleitner) sei hier übrigens besondere Erwähnung getan: genial!
Die durch Alkohol gelöste Atmosphäre (Horváth/Goerden lassen deutlich werden: nur durch Alkohol geht das) setzt das Beziehungskarussell in Bewegung.
Alle wissen, wo sich das Zupacken lohnt. Valerie interessiert sich für alles, was ein Gemächt hat - Susanne Barth ist großartig in ihrer ohne Stolz aufs libidinöse Ziel gerichteten Selbstverleugnung. Der Zauberkönig vergißt seinen Witwer-Gram, Marianne erliegt in billig-schwüler Atmosphäre willigst der ebenso billigen Verführung durch Alfred, mit dem sie schon durchs Schaufenster zu Tango-Pizzicato-Klängen einen Flirt hatte. Es kommt es zum Eklat: sie wirft Oskar den Ring hin, bekennt sich zu Alfred, mit dem sie "ein Kind will" (köstlich Uwe Bohms kommentierende Mimik) und zerstört damit den letzen Hauch scheinbarer heiler Welt. Braunhemd-Neffe Erich (Michael Lippold) macht bei der intriganten wie auch anpassungsfähigen Valerie - gegen Bares, versteht sich - sogleich das Rennen. Der Jackpot steigt weiter.
Ironisch lassen die Damen des Indigo Streichquartetts - die zur Geschichte, will sagen, zu den Geschichten, ein kongeniales musikalisches Fundament liefern - zum Verlobungsbruch "Stand by me" erklingen, vom aufmerksamen Publikum amüsiert honoriert.

Alte Knaben und leckere Gogo-Girls

Ein Jahr später, Marianne hat einen Knaben geboren, den sie nach ihrem Vater Leopold genannt hat.


Beim Heurigen  -  Barth/Klaußner - Foto © Wolfgang Silveri
Die Beziehung zu Alfred, mit dem sie in einer schäbigen Absteige lebt, ist mehr als abgekühlt. Kein Schilling, kein Groschen mehr im Haus. Der modrige Hauch der Situation überträgt sich quälend. Letzter Abwärts-Schritt auf der ohnehin kurzen Leiter: Marianne verdingt sich auf Vermittlung von Alfreds zwielichtigem Freund Hierlinger als Nackttänzerin im "Maxim". Dorthin führt der Rittmeister mit perfidem Plan nach dem Heurigen die besoffene Gesellschaft mit dem Zauberkönig, Valerie und einem "Mister". Ein paar wirklich leckere Gogo-Girls machen die alten Knaben heiß und kühn, bis...
Franz Xaver Zach tritt hier als US-Wiener in einem umjubelten Intermezzo auf (unvergessen sein "Herr Karl" in Köln). Als der Zauberkönig seine ohnehin nach dem Verlobungsbruch verleugnete Tochter nun bei der Strip-Arbeit sieht (Entscheidendes wird von der Nebelmaschine gnädig verborgen), kommt es zum endgültigen Bruch. Auch hier beherrscht Burghart Klaußner wie bei allen seinen Auftritten unaufdringlich nichtsdestoweniger hochdramatisch die Szene - ein Schauspieler wie nur einer.

Die Großmutter an der Luft-Zither

Es kann, wie soll es anders sein, kein gutes Ende geben, wenn (sehr) vordergründig auch ein Hauch von "Normalität" einkehrt. Der Zauberkönig läßt sich schließlich doch zur Versöhnung mit Marianne erweichen und behält sein Puppengeschäft - im Schaufenster übrigens wie stets ein Skelett als


Schatten der Vergangenheit - Alles bei Null - Vörtler/Uffelmann/Bohm
Foto © Wolfgang Silveri
ironischer Hinweis auf die Wiener Mentalität. Alfred geht zurück zu Valerie - gegen Bares, versteht sich - von der sich soeben ihr junger Beschäler verabschiedet hat, und Marianne nimmt die Werbung des noch immer verzweifelt in sie verliebten Fleischhauers, zu dessen Sehnsucht A.C. Jobims "Girl from Ipanema" durch den Raum geht, schließlich an. Einziges Hindernis ist der Schandfleck, kleine Leopold, den Alfreds Mutter und Großmutter in Pflege genommen haben. Doch die mißgünstige Alte, die an der Luft-Zither die "G´schichten aus dem Wiener Wald" spielt, setzt das Kind der Nachtkälte aus - es ist bereits gestorben, als die ganze Gesellschaft aufmarschiert, um es zu besichtigen.
Eine tote, eine verwesende Gesellschaft stellt Horváth mit "Geschichten aus dem Wiener Wald" vor. Ein jeder ist dem anderen Objekt. Männer benutzen Frauen, Frauen benutzen Männer. Solange der eigene Vorteil winkt, ist Verrat das geeignete Mittel. Auch Marianne hat Elmar Goerden vom Nimbus der Unschuld befreit. Was sie tut, was ihr geschieht, hat sie selber mit zu verantworten.
Unschuldig ist keine(r)? - Doch: Alfreds Mutter, von Martina Eitner-Acheampong in liebenswert warmer Wurstigkeit dargestellt, hält die Fahne der Menschlichkeit und des Mitgefühls hoch.

Die Bochumer Aufführung - im Saal übrigens ebenso schwül wie auf der Bühne - hätte mit ihren fast 3½ Stunden durchaus noch ein paar Striche vertragen, ist jedoch durch die überwiegend hochkarätige Leistung der Darsteller unter Goerdens Regie, das gelungene Bühnenbild und nicht zuletzt durch die musikalische Gestaltung des Indigo Streichquartetts eine runde Sache. Und am Ende? Ist der Jackpot wieder auf dem Stand vom Anfang.

Weitere Informationen unter: www.schauspielhausbochum.de