Karl May - „Durch die Wüste“

Nachwort zur Ausgabe 2017 Der ZEIT-Edition „Literarische Weltreisen“

von Michael Zeller

Karl May - „Durch die Wüste“
 
Nachwort zur Ausgabe 2017
Der ZEIT-Edition „Literarische Weltreisen“
 
Von Michael Zeller
 
Nein, so saß Karl May durchaus nicht an seinem Schreibtisch in Radebeul, wie er sich 1896, im Zenit seines Ruhms, ablichten ließ. Im Lederwams des Trappers posiert er, in der Hand die Feder, den Bärentöter griffbereit zur Linken. An der Rückwand kreuzen sich die Läufe verschiedener Flinten, daneben Krummdolche und allerlei Jagdtrophäen, wie einen ausgestopften mannshohen Löwen, zähnebleckend. Zwischen all dem Krempel thront er, „Dr. Karl May bei der Arbeit“, den Schreibtisch behangen mit einer – na sagen wir: orientalischen Webware.
     So sah er sich, der unerschöpfliche Geschichtenerzähler, und so – vor allem - wollte er gesehen sein. Mal als Old Shatterhand, mal als Kara Ben Nemsi ausstaffiert, wie es im Buche steht, dessen Seiten jetzt noch leer vor ihm liegen. „Das Kostüm ist dasselbe, wie Karl May es auf seinen Reisen getragen hat“, behauptet er damals noch, inmitten sächsischer Wohnstuben-Gemütlichkeit nebst dem Touristen-Talmi jener fernen Länder, in denen er seine Abenteuer höchstselbst erlebt haben wollte. „Das Wort ist Fleisch geworden …“
Die wirklichen Umstände seines Fabulierens freilich sahen anders aus. Ein Zimmer leergeräumt, Landkarten aufgehängt, Stadtpläne. Und dann losgeschickt die Feder übers Papier, Tag und Nacht, unter einer Petroleumfunzel, wachgehalten und angetrieben von Kannen schwarzen Kaffees, von Zigarren. Knochenarbeit des Schriftstellers. So wie man eben Bücher schreibt. Kein Freizeit-Sport für Savannen- und sonstige Kavaliere. Binnen eines Sommers war dann ein Roman fertig, von fünf- bis sechshundert Seiten.
 
     Wie der Band „Durch die Wüste“, mit dem die lange Reihe von Karl Mays erzählerischem Werk 1892 eröffnet wurde: Die Nummer eins, bis heute – damals noch unter dem Titel „Durch Wüste und Harem“. Die Gattungsbezeichnung wechselt zwischen „Reiseerzählung“ und „Reiseroman“, und das nicht ohne Grund. Der Schlingerkurs erwies sich als notwendig bei diesem Autor, weil er eben zeitweilig von sich behauptete, die Abenteuer im Orient, im Wilden Westen und in Mexiko, die er vor einem Leser ausbreitete, am eigenen Leib erlebt zu haben. Da mußte es natürlich „Reiseerzählung“ heißen, um den authentischen Charakter des Erlebten gebührend herauszustellen. Doch als Karl May um 1900 gnadenlos aus seinem Allmachtstraum gerissen wurde, Leben und Werk spurenlos verschmelzen zu können, und er auf einmal vor aller Welt (und vor Hunderttausenden seiner gläubig begeisterten Leser) als Lügner und Betrüger bloßgestellt war – nach dieser Katastrophe konnte er sich wenigstens hinter dem Romanhaften seines Erzählens verstecken. In einem „Reiseroman“ war alles ja bloß „erfunden“.
Ob „Roman“ oder „Erzählung“: „Durch die Wüste“, spielt „in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts“, wie es vorn in dem Band heißt, also in unmittelbarer Nähe zur Lebenszeit des Autors. Einem deutschen Zeitungsleser dieser Jahre sagen die geographischen Orte, die bereist werden, durchaus etwas. Es waren schon damals politische Brennpunkte. Schauplatz ist die „Wüste“, wie sie sich von Nordafrika bis in den Vorderen Orient erstreckt. In vier Etappen wird sie von zwei Reisenden durchquert: Dem deutschen Abenteurer und Schriftsteller Kara Ben Nemsi und seinem arabischen Diener und Freund Hadschi Halef Omar (seinen vollen Namen, der über zwei Zeilen geht, konnte ich als Junge auswendig hersagen, wie die meisten in meiner Schulklasse).
 
     Ihre Reise beginnt bei den Salzseen der westlichen Sahara, dem Schott el Dscherid (im Grenzgebiet zwischen Algerien und Tunesien auf heutigen Landkarten). Nächste Station ist Kairo, von wo es mit dem Schiff nilaufwärts geht. Auf der Höhe von Mekka wird über das Rote Meer gesetzt. Kara Ben Nemsi gelingt es tatsächlich, als „Giaur“ (Ungläubiger) die heilige Stätte des Islams zu betreten. Letzter Schauplatz ist der Tigris, der durch das Land der Babylonier und Assyrer fließt, wo damals, „in den 70erJahren des 19. Jahrhunderts“, verschiedene arabische Beduinenstämme in tödlicher Feindschaft gegeneinander leben. Flußaufwärts bewegen sich die beiden Abenteurer, in den Norden, über Mossul in die Berge der Kurden hinein. Hier endet ihre Reise. Aber nur für den Leser, nicht für Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar. Die ziehen weiter „durchs wilde Kurdistan“, den zweiten Band der „Gesammelten Werke“.
     Einziges Ziel ihres Unterwegsseins ist es, Abenteuer zu suchen und zu bestehen. Sie fahren auf „aventiure“, wie es in den Ritterromanen des europäischen Mittelalters hieß. Da bedeutete jeder Ausritt eines Ritters Kampf auf Leben und Tod. Im 19. Jahrhundert ist dergleichen in Europa längst nicht mehr zu haben. Und deshalb müssen der Erzähler May und sein alter ego Kara Ben Nemsi diese weiten Wege gehen, in Weltregionen hinein, die noch nicht durchzivilisiert und verrechtlicht sind – oder zumindest aus der Fernsicht scheint es so. Nur hier, im „Wilden“ Westen oder im „wilden“ Kurdistan, gibt es noch den offenen Kampf von Mann gegen Mann, mit der Waffe ausgetragen, auf dem Rücken von Pferden. Nur hier hat der Held, der das Böse bezwingt und für das Gute sorgt, noch seinen Platz. Einer, der sich wie Kara Ben Nemsi in jeder Situation zu behaupten weiß und allen anderen zeigt, wo’s lang geht, wenn es sein muß, mit der Faust (oh, wie wird Er diese Hiebe beim Schreiben genossen haben …).
 
     Genau das ist der Stoff, aus dem sich die Träume des Lesepublikums speisen, und durchaus nicht nur eines jungen. Seit Generationen hat Karl May mit seinen Abenteuergeschichten in fernen Ländern eine riesige Leserschaft gefesselt (allein in Deutschland Hundert Millionen, weltweit das Doppelte).Das gilt selbst heute noch, wenn auch die Ausleihzahlen der Bibliotheken in den vergangenen Jahren stark zurück gegangen sind.
Als mir zum ersten Mal ein Karl May in die Hände fiel („Der Schut“), war ich zwölf, dreizehn vielleicht. Heute, beim Verfassen dieses Nachworts, in einem Leben, das ich selbst mit dem Verfassen von Romanen und Geschichten verbringe, lese ich diesen Autor natürlich mit ganz anderen Augen (wenn mir auch an manchen Stellen der Atem immer noch schneller geht). Doch jetzt sind es kaum mehr die Abenteuer, die mich als Leser in Spannung versetzen. Sie laufen stets und ständig nach dem gleichen Muster ab und ermüden doch rasch. (Zu Recht hat Arno Schmidt von der „manisch-mechanischen Reproduktion“ des Immergleichen gesprochen.)
Und dennoch: Der Respekt vor dem Schriftsteller Karl May ist zu meiner eigenen Überraschung nach der neuerlichen Lektüre erheblich gewachsen. Was der Mann in seiner Zeit als Reiseschriftsteller geleistet hat, ist beachtlich und aller Ehren wert: Gerade weil er die Länder, die er beschreibt, nicht, wie er es seinen Zeitgenossen weismachen wollte, selbst bereist hat. Die Reiseabenteuer sind schiere Produkte seiner Phantasie, und die ist dermaßen überbordend, daß ihr in der deutschsprachigen Erzählliteratur nicht viel Gleichwertiges an die Seite zu stellen ist. Das unsublimiert selbstherrliche Daherschwadronieren macht diese sächsische Plaudertasche so kostbar. (Die Parallele zu Richard Wagner hat sich mir immer wieder aufgedrängt.)
 
Dazu kommt ein Zweites: Karl May hat im Vorfeld seines Schreibens gründlich recherchiert. Eine ganze Zimmerwand füllten in Radebeul die Regale mit der aktuellsten Reiseliteratur, derer May habhaft werden konnte, ohne Nippes aus Orient und Okzident dazwischen. Wie schon Jean Paul so richtig befunden hatte: „Da unser Enzyklopädist nie das innere Afrika oder einen spanischen Mauleselstall betreten, oder die Einwohner von beiden gesprochen hatte: so hatt‘ er desto mehr Zeit und Fähigkeit von beiden Ländern reichhaltige Reisebeschreibungen zu liefern.“
Mays Natur- und Landschaftsschilderungen, die der jugendliche Leser schon mal mit feuchtem Finger überblättert hat, genießt der Ältere jetzt Wort für Wort. Lesen Sie nur die Schiffsfahrt durch eine Stromschwelle des Nils (S. 136 f.)! Das ist makelloseste Literatur. Wie viel davon allerdings Originalton Karl May ist und wie viel wir den zahllosen Überarbeitungen zuschreiben müssen, damit die Erzählungen für ein Lesepublikum sprachlich à jour erhalten bleiben – dieses übervolle Faß kann an dieser Stelle nicht geöffnet werden. Vorsicht, Treibsand!
Die ausführliche Recherche, die Mays Reiseliteratur zugrunde liegt, trägt bis heute ihre Früchte und hält die Texte frisch. Die Länder, die in „Durch die Wüste“, bereist werden, von Algerien bis in den Irak (nach derzeitigen Ländergrenzen), sind uns heutigen Lesern im Vergleich zu 1892 doch sehr viel näher gerückt, gerade auch im Hinblick auf die aktuellen Auseinandersetzungen mit dem Islam. Der bekennende Christ Kara Ben Nemsi und sein frommer muslimischer Diener und Freund Halef Hadschi Omar setzen sich ständig mit der Verschiedenheit ihres Glaubens auseinander. Beide versuchen sie, einander zu bekehren. Doch kaum einmal ein Ton kolonialer Großmäuligkeit oder von Rechthaberei. Respektvoll und schonend gehen sie miteinander um (wie man es sich in der Wirklichkeit nur wünschen könnte). Als die beiden in der Wüste auf eine Leiche stoßen, bittet der Muslim den Christen, den Toten mit dem Gesicht nach Mekka zu bestatten. Kara Ben Nemsi willigt ein, fügt aber dem Steinhaufen „noch so viel Geröll dazu, daß er die Gestalt eines Kreuzes bekam und faltete dann die Hände, um ein Gebet zu sprechen. Als ich damit geendet hatte, wandte Halef sein Auge gegen Morgen, um mit der hundertundzwölften Sure des Korans zu beginnen“ – sie wird anschließend zur Gänze zitiert.

     Karl Mays Wort in Gottes Ohr, kann man da im Jahr 2017 nur sagen. Oder mit Carl Zuckmayer „Es fehlte nur wenig, so hätten die Deutschen in diesem grandiosen Erzähler von Männerschicksalen den wirklichen großen Epiker gehabt.“ Hugh!
 
Kurzfassung:
Karl May, „Durch die Wüste“
 
Karl Mays Reiseroman „Durch die Wüste“, eröffnet 1892 die lange Reihe seines erzählerischen Werks. Die Reise führt den deutschen Abenteurer und Schriftsteller Kara Ben Nemsi, einen bekennenden Christen, mit seinem frommen muslimischen Diener und Freund Hadschi Halef Omar „Durch die Wüste“, von Nordafrika bis in den Vorderen Orient, den jetzigen Irak. Damals, als Karl May das Buch schrieb, war das politisch ein kaum weniger vermintes Gelände als in unseren Tagen. Ein Kompliment für den Autor, wie frisch sich die religiöse Auseinandersetzung zwischen Christentum und Islam in diesen beiden Reisenden mit heutigen Augen liest. Ausgesprochen respektvoll und schonend gehen die beiden miteinander um. Ganz selten mal schlägt ein Ton von kolonialer Großmäuligkeit durch oder von christlicher Selbstgerechtigkeit. Hut ab, Karl May!