Kind, spiele!
Kinderspiel, Glücksspiel, Kriegsspiel
1900-1945
(…) Spielen Kinder doch zuweilen
Wunderbar Selbsterdachtes.
(Joachim Ringelnatz)
Spielen – ein Urtrieb des Menschen, der ihn über die ganze Lebensspanne begleitet. Die Formen des Spiels sind so vielfältig wie die des Menschen selbst. Es befindet sich im ständigen Wandel, denn immer wieder werden neue Arten des Spiels erfunden, bzw. paßt sich das Spiel an die Zeitläufe und äußeren Bedingungen an. Ob ein Säugling sich mit seinem großen Zeh beschäftigt, Kinder mit Puppen, Modellautos, Bauklötzen und Spielzeugwaffen spielen oder in Familien-Rollenspielen die sozialen Verhältnisse nachspielen, ein gestandener Mann gespannt die Roulette-Kugel oder die Walzen des einarmigen Banditen bei ihrem Lauf verfolgt oder Damen sich beim Bingo treffen – es ist immer die Faszination des Spiels, die dahinter steht.
Spielzeug wird gesammelt, es konserviert, in Kartons aufgehoben, die eigene Kindheit, und es bringt die Träume zurück, die man einst hatte. Erziehungswissenschaftler haben seit eh das Spiel und seine pädagogische und soziale Funktion untersucht – und sich dabei vor allem in den 1960er und 1970er Jahren im Zuge einer revolutionären Pädagogik grandios geirrt, indem z.B. Spielzeugrevolver, Negerpuppen und geschlechtspezifische Spiele und Spielzeuge verdammt wurden. Man hat seinerzeit nicht begreifen wollen, daß Kinder einfach nur spielen und nicht in dieser oder jener Richtung politisch indoktriniert werden wollen.
André Postert, dessen Buch „Hitlerjunge Schall“ wir Ihnen hier bereits vorstellen konnten, hat in seinem neuen Buch „Kinderspiel, Glücksspiel, Kriegsspiel“ die deutsche Geschichte von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges mit Blick auf das Spielen und auf die damit verbundenen politischen Dimensionen, insbesondere der Weltkriege und der nationalsozialistischen Gleichschaltung untersucht. Dabei zieht er aber auch einen interessanten weiten Bogen in die deutsche Vergangenheit und Geschichte des Spielens. Anhand von u.a. politischen Kartenspielen, in den Krieg ziehenden Puppen in Uniformen von Steiff im 1. Weltkrieg, Mundharmonikas in Form einer Granate, Bildergeschichten, Brettspielen, Stabilbaukästen, Lottoscheinen, NS-Spielzeug wie Käthe-Kruse-Puppen in HJ-Uniform oder Erotikspielzeug zeigt Postert auch die weitreichenden Dimensionen auf, die bis hin zu der Perversion von Würfeln für deutsche Soldaten, angefertigt von jüdischen Kindern in den Ghettos der Nazi-Zeit, mit dem Spiel und seiner politischen Lenkung verbunden sein können.
Dem Hurra!-Patriotismus des Kaiserreichs, dem Glücks- und Falschspiel in Zeiten der Krise, der NS-Indoktrination durch Spiele und Spielzeug, dem Rassismus im Spiel und dem Spiel und Spielzeug der Sexualität hat André Postert Kapitel gewidmet. Posterts Buch zeigt aber auch, daß Spiel in finsteren Zeiten durchaus ein Hilfsmittel zum Überleben sein kann, wie Schilderungen im Kapitel Das Spiel des Überlebens aus den Konzentrationslagern des 3. Reichs zeigen.
„In den Spielsachen bildet sich Geschichte mit all ihren Aspekten ab: Technik, Wirtschaft, Politik, Erziehung, Frauengeschichte und Emanzipation, Imperialismus, Krieg, Rassismus, Fanatismus, Unrecht und Verbrechen. (…) Spiel und Spielzeug unterliegen dem fortwährenden Wandel, denn sie spiegeln die Geschichte und die Veränderung der Gesellschaft.“ (André Postert)
Es ist, wenn auch eine wissenschaftliche Untersuchung, ein auch für Laien lesenswertes, sogar unterhaltsames und durchaus spannendes Buch geworden, das allerdings nur spärlich illustriert ist. Hier könnte mehr Bildmaterial, zudem in den Text eingeflochten, anstatt en bloc in die Mitte des Buches gestellt, für besseres Verständnis sorgen.
Kind, spiele!
Kind, spiele!
Spiele Kutscher und Pferd! Trommle! - Baue dir viele Häuser und Automobile! - Koche am Puppenherd!
Zieh deinen Püppchen die Höschen
Und Hemdchen aus! - Male dann still! Spiele Theater: „Dornröschen" Und „Kasperl mit Schutzmann und Krokodil!" - Ob du die Bleisoldaten Stellst in die fürchterliche Schlacht,
Ob du mit Hacke und Spaten Als Bergmann Gold suchst im Garten im Schacht, Ob du auf eine Scheibe Mit deinem Flitzbogen zielst, - - -
Spiele! - Doch immer bleibe
Freundlich zu allem, womit du spielst. Weil alles (auch tote Gegenstände) Dein Herz mehr ansieht als deine Hände. Und weil alle Menschen (auch du, mein Kind)
Spielzeug des lieben Gottes sind. Joachim Ringelnatz
André Postert – „Kinderspiel, Glücksspiel, Kriegsspiel“
Große Geschichte in kleinen Dingen 1900-1945
Spiele erzählen Geschichte - dtv Sachbuch
2018 dtv, Originalausgabe, 400 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen, mit Abbildungen auf 16 Fotoseiten - ISBN 978-3-423-28980-1 26,00 € [DE], 26,80 € [A]
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