„Perfectissimus est numerus 28“

Eine Zahl und die ihr in Brauchtum und Literatur zugeschriebenen Bedeutungen

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
„Perfectissimus est numerus 28“
 
Eine Zahl und die ihr in Brauchtum und Literatur
zugeschriebenen Bedeutungen

Mit dem Dictum, 28 sei eine der „perfektesten“ Zahlen überhaupt, beginnt Petrus Bungus im Jahr 1599 in seinem Buch „Numerorum Mysteria“ die -  neun engbedruckte -  Seiten umfassende Vorstellung dieser Zahl sowie ihrer seit Antike und Mittelalter geläufigen mathematischen, philosophischen und theologischen Bedeutungen.
 
Die 28 Tage des Februars scheren aus den sonst gegebenen Monatstagen aus. Mondphasen sind auf 28 Jahre terminiert. Mit 28 Jahren hat der Mensch seinen von der Natur vorgegebenen Siebenjahreszyklus viermal durchlaufen und steht damit nach älterer Auffassung in der Mitte seines Lebens. In diesem Alter läßt der seinerzeit 28-jährige Dichter Rilke den Helden des Romans „Malte Laurids Brigge“ seine „Aufzeichnungen“ beginnen. Der erwachsene Mensch hat (außer den Weisheitszähnen) 28 Zähne. Bei Auftreten des „Englischen Schweißes“ wird (gemäß der von Ludwig Bechstein aufgezeichneten gleichnamigen Sage) „nach Verlauf von 28 Stunden vorsichtiger Wechsel der Wäsche“ angeraten. - Dies sind nur einige willkürlich herausgegriffene Beispiele für den Befund, daß man der Zahl 28 immer wieder in allen möglichen Zusammenhängen begegnet.
 
     In den biblischen Geschichten spielt die Zahl keine nennenswerte Rolle, aber mittelalterliche Legenden brachten sie hinein. So sagt etwa in einer mittelhochdeutschen Dichtung aus dem 13. Jahrhundert („Urstende“) der einst durch ein Wunder von Jesus Geheilte als Zeuge vor Pilatus aus, er habe bis dato 28 Jahre an einer vollständigen Lähmung gelitten. Die frühe Kirche sah die 28 als heilige Symbolzahl an: Die seit dem 4. Jahrhundert in Rom verehrte Scala Sancta zählt „28 Staffeln, darauff der Erlöser nidergefallen vnnd sein köstliches Blut vergossen“ (so noch Aegidius Albertinus im Jahr 1615). Die alte St. Peter-Basilika hatte eine Freitreppe mit 28 Stufen, auf deren jeder dort kniend Betende sieben Jahre Ablaß gewann. Um 440 stiftete Sixtus III. der von ihm gegründeten Basilika Maria Maggiore in Rom „28 silberne Kronen“ (so Anshelm Ziegler noch im Jahr 1695). Für weitere Zeugnisse und ihre Übernahmen in die Literatur nur ein Beispiel. Ludwig Bechstein schildert in seiner Sage „Heilsbrunn“ ein Zisterzienserkloster, das vom Kaiser Ludwig dem Bayern und Bischöfen mit einer „Fülle herrlicher Denkmäler“ ausgestattet wurde: „Die (1132 geweihte) Kirche hatte nicht weniger als achtundzwanzig Altäre.“ Von hier führt ein direkter Weg zur Zahl 28 in der Bildenden Kunst. Das 1403 vollendete Altarretabel des Conrad von Soest in der Bad Wildunger Stadtkirche stellt insgesamt 153 Figuren vor, die deutlich unterschieden als Glieder einer Addition zu erkennen sind: die Rundzahl 100, 25 Figuren (unter dem Kreuz Christi) und eben 28 in der Darstellung des Jüngsten Gerichts. 100+25+28 ergibt die durch das Johannesevangelium (21.11) berühmte Zahl 153, die traditionell auf die Missionierung und Erlösung der gesamten Menschheit gedeutet wird. 
 
     In der europäischen Literatur finden sich seit dem Mittelalter häufig bedeutsame Zeitangaben: In der altfranzösischen Sage „König Wilhelm von England“, die auf einer Dichtung des Chrétien de Troyes aus der Mitte des 12. Jahrhunderts basiert, liest man von einem König: „[...] schon volle 28 Jahre war er nun in der Fremde gewesen.“ Bereits im Titel seines 1719 erschienenen Romans weist Daniel Defoe auf die für ihn offenbar besonders wichtige Zeitspanne hin: „Robinson […] who lived Eight and Twenty Years […] in an un-inhabited Island.“ In der alten Lübischen Sage „Der Martensmann“ heißt es:
 
            „1301, auf Martine-Tag, kam Heinrich der Pilger, Herzog von Mecklenburg,
           aus 28jähriger Gefangenschaft im gelobten Land nach Lübeck.“
 
Auch aus der Erwägung solcher und ähnlicher, oft unheilvoller Zeitspannen hat sich eine Vorstellung von der „28“ als einer Schicksals- oder Unglückszahl entwickelt, für die das „Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens“ zahlreiche Belege bietet. Unter anderem entwickelte sich der 28. Oktober im Volksglauben zu  d e m  Unglückstag. In Schillers „Tell“ heißt es zu diesem Datum (dem 28. 10. 1307) entsprechend:
 
            „[...] 's ist heut Simons und Judä,
            Da rast der See und will sein Opfer haben.“
 
Freitag, der Dreizehnte, auch ein traditioneller Unglückstag, ist in jedem Zeitraum von 28 Jahren 48 Mal vertreten – mehr als jeder andere Wochentag. Infolge oder in Begleitung solcher und ähnlicher Beobachtungen wertete die Literatur ab 1800 die Frist von 28 Jahren als Schicksalssymbol. Die namhaftesten „Schicksalsdramatiker“ sind  Zacharias Werner, Adolph Müllner, aber auch der junge Grillparzer. Schon die Titel der seinerzeit berühmten Stücke geben Hinweise in dieser Hinsicht. „Der vierundzwanzigste Februar“ (von Werner) zielt ebenso wie „Der neunundzwanzigste Februar“ (von Müllner) auf den angeblich ebenfalls unglücksträchtigen Schalttag des kirchlichen und des profanen Kalenders.
 
An einem 24. Februar hatte sich Bauer Kunz am Tod seines Vaters schuldig gemacht und wurde von diesem sterbend verflucht. Er erinnert sich:
 
            „Heut sind es akkurat achtundzwanzig volle Jahr', seit die
           fluchbeladne That sich begab – Glock zwölf war es.“
 
Genau an diesem Tag kehrt der Sohn Kurt nach 28-jähriger Abwesenheit  unerkannt in sein Elternhaus zurück, das er verlassen hatte, nachdem er seine Schwester getötet und seinem Vater Kunz dafür seinerseits verflucht worden war. Er legt sich zur Ruhe; da fällt im Wohnzimmer das Messer von Wand, durch das einst indirekt seines Großvaters Tod verschuldet wurde. Die Eltern betreten damit „um Mitternacht“ die Schlafkammer und töten ihren Sohn, um den Fremden zu berauben. Das ist der perfekte Schicksalsmechanismus. Symbolträchtiges Requisit ist das Messer, durch das einst der Großvater am 24. Februar „um Mitternacht“ zu Tode kam. Genau auf die Minute nach 28 Jahren fällt es von der Wand und mit ihm erfüllt sich der Fluch des Großvaters: Der Vater ersticht seinen eigenen Sohn, der sich erst nach Empfang der tödlichen Wunde zu erkennen gibt. Untat und Sühne beziehen die Schicksalsdramatiker hinsichtlich Zeit und Raum engstens miteinander.
 
Auf die Stunde genau nach 28 Jahren schlägt das Schicksal an der gleichen Stelle zu, wo die bis dato ungesühnte Untat geschehen ist und entlarvt damit zugleich den Übeltäter. Nicht nur identischer Raum und Requisiten, sondern auch die gleichen Kalendertage sollten die Untat und den späteren Zugriff des Schicksals genauestens  verknüpfen. Die unerhörten Begebenheiten mußten sich darüber hinaus auch immer an genau demselben Wochentag ereignen. Dieser nun tritt turnusmäßig im Abstand von 28 Jahren auf: Der 24. Februar 2019 fällt auf einen Sonntag wie in den Jahren 1991, 2047, 2075 usw. Innerhalb dieser 28 Jahre fällt der 24. Februar zwar auch zuweilen auf einen Sonntag,  regelmäßig aber nur nach jeweils 28 Jahren.
 
     Das hat der jungen westfälischen Dichterin Annette von Droste-Hülshoff mächtigen Eindruck gemacht. Die Zwanzigjährige schreibt nach Empfang des Schicksalsdramas „Die Schuld“ von Müllner an ihren Onkel August von Haxthausen:
 
            „[...] wirklich finde ich 'Die Schuld' so vortrefflich, habe sie so oft
           gelesen und daran gedacht, daß ich sie zur Not wieder aufschreiben          
          könnte, wenn alle Exemplare sollten verloren gehen.“
 
Bei solch intensiver Lektüre in diesem seltsamen Genre wurde sie auf die von den Dramatikern immer wieder berufene Funktion der 28 Jahre aufmerksam. Als sie wenig später daran ging, ihre berühmte Schuld-und-Sühne-Novelle „Die Judenbuche“ zu konzipieren, findet sich von den ersten Notizen an (bis hin zur Endfassung von 1842) stets das Motiv der 28 Jahre. 28 Jahre nach seiner Untat kehrt Friedrich Mergel aus türkischer Sklaverei an den Ort des Verbrechens zurück und nimmt sich dort das Leben. In einer Vorfassung wollte die Dichterin Mord und Sühne jeweils genau auf den Unglückstag, den 28. Oktober, festlegen, was ihr später denn doch zu plakativ erschien. Die in der Novelle genannten Jahreszahlen (Totschlag 1760, Rückkehr und Selbstmord 1788 jeweils unter derselben Buche) müssen auf den ersten Blick erstaunen, denn die realen Begebenheiten, von denen die Droste'sche Erzählung ausgeht, bieten die Daten 1783 (Tod des Juden) und 1806 (Selbstmord des Täters), also einen Zeitraum von 23 Jahren; Odysseus, mit dem der Flüchtling indirekt verglichen wird, war genau 20 Jahre von seiner Heimat entfernt. Daß sich die „28“ gegen diese beiden Zahlen durchsetzt, hat mit dem Bezug auf die Schicksalsdramen zu tun. In der wichtigsten Quelle zu ihrer Dichtung „Die Geschichte eines Algierersklaven“ resümiert August von Haxthausen im Blick auf das Ende des Täters: „Er mußte sein Schicksal erfüllen.“
 
Die Thematik der „Judenbuche“ geht zwar nicht in der durch Übernahme der markanten Zahl signalisierten Verwandtschaft mit den Schicksalsdramen  auf; doch diese Zahl selbst war so suggestiv, daß die Droste einen schweren Fehler im Erstdruck übersah: Die Heimkehr Mergels ist auf den 24. Dezember 1788 datiert; nach Entdeckung seines Selbstmordes aber heißt es: „Dies hat sich nach allen Hauptumständen wirklich so begeben im September 1788.“
 
Dreimal wird der Zeitverlauf von 28 Jahren in der Novelle ausdrücklich betont, zum Beispiel: „Eine schöne, lange Zeit war verflossen, achtundzwanzig Jahre.“ Diese Zahl sollte sowohl für die Rückkehr am Heiligen Abend des Jahres 1788 wie bei der Entdeckung der Leiche Friedrich Mergels im September 1788 an der Buche stehen (deren Funktion die gleiche wie die des Mordmesser-Requisits in Werners Drama ist); die Dichterin hat im Laufe des Schaffensprozesses die Unvereinbarkeit der beiden Zeitangaben nicht bemerkt.
 
Die Entdeckung der unterschwelligen Verbindung der Novelle mit den Schicksalsdramen kann wesentlich zur Interpretation des seit 120 Jahren und bis heute viel umrätselten Kunstwerks beitragen. Friedrich Mergel ist, den realen Begebenheiten entsprechend, am Tod des Juden schuldig. Seitdem steht er  unter der unerbittlichen Macht des Schicksals. Insofern ist er mit den Figuren aus Werners „24. Februar“ in vielfacher Hinsicht verwandt. Wenn der Täter Kurt angesichts seines Verbrechens bei Werner ausruft „wär' ich Unglückseliger nie geboren!“, so entspricht das frappierend dem Seufzer Friedrich Mergels vor der Leiche des Juden „o wär ich nicht geboren“ (auch diese Worte waren der Droste im Blick auf Werners Drama und vor allem auf entsprechende Bibelstellen wiederum zu plakativ, so daß sie in der Druckfassung die Formulierung, aber nicht die Intention änderte: „O weh, meine arme Seele!“).
 
In neueren Interpretationen wird zunehmend darauf insistiert, daß Friedrich Mergel nicht am Tod des Juden schuldig sei, sondern vielmehr ein Jude Aaron oder gar ein Unbekannter. Dagegen spricht allein schon die dreimalige markante Berufung der 28 Jahre in der Novelle: Ein Verdächtiger, der sich genau 28 Jahre nach der Untat an derselben Stelle erhängt, ist nach dem Schicksalsmechanismus der Täter. Diese Deutungsschicht sollte bei jeder Beschäftigung mit der „Judenbuche“ heran- oder mindestens in Erwägung gezogen werden.
   

© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2019