Weihnachten mit Lydia

von Erwin Grosche

Foto © Harald Morsch

Weihnachtliche Rettungsaktion
 
Der Himmel war grau. Es hatte geschneit und Lydia war froh, sich in der Bäckerei Hermisch aufwärmen zu können. Sie wollte sich einen Christstollen kaufen, war aber noch nicht sicher, ob sie ihn mit Marzipanfüllung oder ohne eine Marzipanfüllung haben wollte. Sie hatte am Morgen einen Streit mit ihrem Freund gehabt, der ganz versessen auf Marzipan war. Lydia wußte nicht, ob sie ihm diese Freude machen wollte. Plötzlich geschah etwas, das sie aus ihren Gedanken riß. Sie konnte einem Christstollen das Leben retten. Er lag auf der Theke eines Verkaufsraumes und wurde kaum beachtet. Eine junge Verkäuferin war gerade dabei, daneben eine Torte zu plazieren. Sie wußte, wie gefährlich es war, eine Torte auf die Glasablage zu stellen, zumal die Glasablage schmal war und die Torte mächtig und breit. So hatte die junge Verkäuferin nur Augen für die Torte und hob diese vorsichtig auf die Glasablage. Bei ihrer Aktion bemerkte sie gar nicht, wie sich die Torte immer mehr gegen den Stollen drängte und ihn schließlich nach vorne schob. Das Unglück nahm seinen Lauf. Der Christstollen wurde langsam von der Glasplatte gedrückt. Lydia hatte gerade ihre Handschuhe ausgezogen, als sie ihn rutschen sah. Er verlor immer mehr seinen Halt und taumelte schließlich dem Abgrund entgegen. Als nun der Stollen stürzte, Lydia meinte sogar gehört zu haben, mit einem Seufzer, griff sie instinktiv zu, berechnete aus dem Bauch heraus die Flugbahn und fand schließlich in ihren Händen den zitternden Stollen wieder, bevor er auf den Boden aufschlagen konnte. Lydia atmete auf. Sie schaute auf den Stollen und war so gerührt, als hätte sie einem kleinen Baby das Leben gerettet. Sie stellte den Christstollen auf die Ablage zurück. Alle im Raum starrten sie an. Ihre Rettungsaktion war nicht unbemerkt geblieben. Die Verkäuferin stammelte plötzlich: „Wenn sie den Stollen angefaßt haben, müssen sie ihn auch kaufen“. Lydia lächelte und griff zu. Natürlich wollte sie diesen Stollen haben. Sie wollte ihn mit nach Hause nehmen und aufessen. Sie war sich nur nicht mehr sicher, ob sie ihn alleine essen wollte. Er war mit Marzipan gefüllt. War das ein Zeichen? Aber man kann ja einen Stollen auch teilen. Ein leckerer Christstollen mit Marzipan gefüllt, kann immer eine Versöhnung einleiten.
 
 
Winter
(Eine Winterstimmung)
 
Lydia schlief in seinen Armen ein. Sein Herz hörte auf zu schlagen. Er wollte Lydia nicht wecken. Er wußte nicht mehr, wie lange sie so gelegen hatten. Sie war wie tot. Er glaubte, daß zwischendurch Schnee fiel und manchmal Weihnachtsmänner durch das Fenster sahen. Als Lydia wach wurde, fragte sie: „Was ist Wind?“ Er sagte schnell: „Das ist Luft, die es eilig hat.“