Nochmal die Gedichte und Erzählungen der großen, unglücklichen Dichterin lesen…

Karen Duve – „Fräulein Nettes kurzer Sommer“

von Johannes Vesper

„Fräulein Nettes kurzer Sommer“
 
Ein Roman über das Schicksal der Annette von Droste-Hülshoff
 
Schön war sie nicht, aber kurzsichtig, streng erzogen, fromm, religiös, klug und westfälisch. In der Literaturgeschichte hat sie ihren Platz gefunden und taucht jetzt erneut darin auf. Im Roman von Karen Duve wird das Leben der jungen begabten Annette von Droste-Hülshoff in den Jahren 1817 bis 1821 erzählt. Schon vorab deutet sich ihr unglückliches Liebesleben an: Früh am Morgen tritt sie bei Bodennebel und grauen Wolken nach einem Ausflug mit einem grundhäßlichen Mann namens Heinrich Straube aus dem westfälischen Buchenwald. Die beiden hatten Steine geklopft bzw. Mineralien gesucht und ihren Rucksack voll mit Geröll aus dem Steinbruch. Der mittellose Student Heinrich meinte an diesem Morgen, es sei Liebe, umarmte das Freifräulein, küßte sie auf den Mund, wobei ihn seine Nase wie Brille störten. Annette erstarrte – ihre Kurzsichtigkeit hätte beinahe jede Erotik getötet - aber ließ ihn gewähren und der Roman beginnt drei Jahre zuvor. Nach zu früher Geburt des eigentlich nicht erwünschten Mädchens – in Westfalen zeugt man Söhne – erhielt sie mit ihrer Schwester und ihrem jüngeren Brüdern recht anspruchsvollen Privatunterricht, lernte das Klavierspiel und begann bald zu dichten, was in der Familie nicht geschätzt wurde. Das katastrophale Wetter jener Jahre der Romantik in Deutschland und Europa brachte Kälte, Dauerregen und Ernteausfälle. Das Leben wurde teurer und teurer auch in Westfalen. Beim gewaltigen Ausbruch des Tambora östlich von Java im April 1805 waren Unmengen von Asche, Staub und Schwefelgase in die Atmosphäre geschleudert worden, hinter denen die Sonne bis hin nach Europa monatelang verschwand.
 
In Göttingen pflegten Heinrich Straube und seine Freunde, zu denen auch Nettes Onkel August von Haxthausen gehörte, in ihren Burschenschaften altdeutsche Traditionen oder das, was sie dafür hielten. August von Haxthausen wurde als Dichter nicht so berühmt wie später seine Nichte, aber hatte immerhin die „Poetische Schusterinnung“ in Göttingen gegründet, einen schöngeistigen, studentischen Verein, in welchem man Tee und Punsch trank, rauchte, dichtete und sogar unter Mitarbeit von Clemens Brentano, der Brüder Grimm, Ernst Moritz Arndt und Achim von Arnim eine vereinseigenen Zeitschrift, die „Wünschelrute“ herausgebracht hatte. Ausgeprägter Antisemitismus, Restauration in Deutschland nach Napoleon werden von den Studenten nicht nur in Göttingen diskutiert und gelebt. Nach dem Ende ihres Studiums wird das Interesse der Schusterpoeten an Literatur und Dichtung abgenommen haben. Sie mußten sehen, wie sie als Anwalt, Theologe oder Hauslehrer überleben konnten. Annette reiste mit ihrer Familie zu Verwandten auf den Bökerhof in Ostwestfalen, dem Zentrum ihrer mütterlichen Familie, derer von Haxthausen.. Sie besuchte die Brüder Grimm im damals weltstädtischen Kassel (jedenfalls im Vergleich mit Münster), zeigte sich beeindruckt von der Gemäldegalerie im Fridericianum, einem der ältesten öffentlichen Museen Europas, von der Parkanlage und dem Schloß Wilhelmshöhe, ging bummeln in der Stadt und diskutierte mit den Brüdern Grimm, den Löwen der damaligen hessischen Geisteselite, über Literatur und ihre eigenen Gedichte. Oft traf man auf dem Bökerhof nicht nur die Verwandten sondern auch immer wieder die Studentenclique aus Göttingen. Annette machte sich durch aufdringliche und kritische Fragen in diesen misogynen Kreisen eher unbeliebt, galt als spröde, eigensinnig und schwierig. Wieviel Geist ist denn bei einer jungen Frau, die dichtet und dazu noch passabel Klavier spielt, zu ertragen? Sehr gut recherchiert entsteht in dem Roman das Leben der frühen Biedermeierzeit, in welcher sich dank Heiliger Allianz und Karlsbader Beschlüsse reaktionäre, altdeutsche Gedanken auch bei den Intellektuellen Studenten in den deutschen Kleinstaaten ausbreiteten, obwohl zunehmende Industrialisierung zumindest den wirtschaftlichen Horizont weiteten. Den wachsenden Handel mit England und überhaupt mit dem Ausland fürchteten die adligen Westfalen auf Schlössern und Höfen wie die Studenten in Göttingen. Trotz Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik entfalteten Magnetismus, Somnambulie und Mesmerismus als medizinische Verfahren ihre Faszination. Auch Annette phantasierte in Gesprächen über Schloßgespenster, die nachts Kontakt mit ihr aufnehmen. Meinte sie das ernst?


Burg Hülshoff - Foto © Frank Becker

Nach gut dreihundert Seiten nimmt westfälische Leidenschaft gemächlich Fahrt auf, als Annette ihre Gedichte dem hochgeschätzten Heinrich Straube nach dessen Rückkehr von der Entenjagd ihre Gedichte zeigen darf. Der weithin auch von der poetischen Schusterinnung geschätzte Heinrich zeigte sich angetan, lobte ihr Talent, was die Familie, vor allem Onkel August nicht nachvollziehen konnte. Heinrich schenkte ihr eine Entenfeder, die er bei der Jagd eingesteckt hatte und durfte sich von ihrem Nacken eine Locke als Erinnerung an diesen großen Tag abschneiden. Es kam sogar zu besagtem Kuß, fast zu einem Zungenkuß und Annette glaubte, sich an den häßlichen Straube gewöhnen zu können, wußte sie doch sich verstanden und ihre Dichtung gewürdigt. Andere Freunde von Onkel August kamen zu Besuch, darunter der schöne August von Arnswaldt, der sie bedrängte, dessen Erotik sie durchaus beeindruckte, den sie aber unter Hinweis auf ihre Liebe zu Straube zurückwies. Beleidigt, wie er war, erzählte dieser schöne Arnswaldt seinem Freunde Straube die erotischen Erlebnisse mit Annette, die Straube weder hören noch glauben mochte. Trotzdem verfaßten die beiden einen Brief: Die Zuneigung von Arnswaldt sei vorgetäuscht gewesen, um sie zu prüfen. Sie sei sehr schnell darauf eingegangen und in ihrer Ehrlosigkeit Straubes nicht würdig. Beide brachen jede Verbindung zu ihr ab und sorgten dafür, daß ihre Affäre mit zwei Männern gleichzeitig bekannt wurde. Schwer getroffen von dieser Intrige wurde die 23jährige, wollte mit dem Gefühl der eigenen Schuld und Unwürdigkeit kaum weiterleben und wurde gesellschaftlich isoliert. Daß ihre eigene Familie in die Intrige verwickelt war, ahnte sie nicht. Straube traf nach der Trennung Heinrich Heine in Göttingen, war emotional noch lange nicht mit Annette fertig und rettete sich, angeregt von Heinrich Heine, mit seinem Liebeskummer in die Alliteration:: „So nett ich, auch Sonette, Nettchen, webe …wie sollst Du meiner Seele Sehnen sehen wie kann ich meines Kummers Wehen mich nicht in Lied, Leid, Liebe zu verlieren.“ Das Dichten hat er dann glücklicherweise aufgegeben und Jura studiert. Annette hat ihn nie wieder gesehen und wurde auch 20 Jahre später nicht glücklich mit dem 18 Jahre jüngeren Levin Schücking, der seinerseits eine andere erwählte. „Es ist eine alte Geschichte…“, aber auch nicht mehr Thema des Romans. 


Annettes Handschrift in einem Brief - Foto © Frank Becker

Das umfangreiche Literaturverzeichnis spiegelt die intensive Recherche der Autorin wieder, die sich dieser Aufgabe nur dank eines Stipendiums des Literaturfonds Darmstadt widmen konnte und dank finanzieller Unterstützung guter Freunde. Locker, leicht und unterhaltsam liest sich dieser biographisch historische Roman aus der Zeit nach Napoleon und nach dem Wiener Kongreß. Die Politik der Epoche wie auch die Lebensumstände und das Wetter in Westfalen damals werden trocken und humorig abgehandelt. Das Schicksal der mißbrauchten armen Annette von Droste-Hülshoff, die nicht nur stricken und sticken wollte, die mit den jungen Männern gleichziehen wollte, ihnen haushoch überlegen war, wurde aus Briefen, Akten und Archiven sorgfältig rekonstruiert. Auf den inneren Einbandseiten finden sich der Stammbaum der mütterlichen Familie Annettes, derer von Haxthausen und die Karte Westfalens mit den Orten, an denen der Roman spielt. Durch dieses Lesevergnügen der Sonderklasse könnte der/die eine oder andere angeregt werden, sich nochmal die Gedichte und Erzählungen der großen, unglücklichen Dichterin vorzunehmen.
 
Karen Duve – „Fräulein Nettes kurzer Sommer
Roman
© 2018 Galiani Verlag Berlin, 581 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag - ISBN 978-3-86971-138-6 25,- € / 25,70 € (A)
 
Weitere Informationen: www.galiani.de/
 
Redaktion: Frank Becker