Zum 80. Todesjahr des Expressionisten Ernst Ludwig Kirchner

1938 – Das Ende nach Depressionen, Mutlosigkeit und verlorenen Hoffnungen

von Jürgen Koller

Ernst Ludwig Kirchner, Porträt Karl Schmidt-Rottluff,
Umschlag der IV. Jahresmappe der Brücke, 1909

1938 – Das Ende nach Depressionen,
Mutlosigkeit und verlorenen Hoffnungen
 
Zum 80. Todesjahr des Expressionisten
Ernst Ludwig Kirchner
 
 
Zufällig fand ich in einem Versandkatalog für Remittenden und Überexemplare einen Katalog der Ausstellung Ernst Ludwig Kirchner in den Kunstsammlungen Chemnitz aus dem Jahre 2015. Das gut gemachte Hardcover-Buch, von 136 Seiten, 108 meist farbigen Abbildungen und mit einem informativen Einführungstext von Anja Ritter, seit 2014 Kuratorin des Museums Gunzenhauser in Chemnitz, ist noch erhältlich. Das besondere an der Chemnitzer Sammlung ist, daß der Bestand von 76 Werken Kirchners dort nicht nur alle Werkbereiche des Künstlers aus den Jahren 1904 bis 1929 umfaßt, sondern daß eben auch Ernst Ludwig Kirchners künstlerische Entwicklungsphasen über all die Jahre dokumentiert sind. Durch die NS-Aktion „Entartete Kunst“ verlor Chemnitz seinerzeit 31 Werke des Expressionisten, zum Teil unersetzliche Gemälde. Durch großzügige Dauerleihgaben und Schenkungen aus Privathand oder auch von Institutionen konnte das Chemnitzer Museum seinen Kirchner-Bestand auf mittlerweile 76 Werke erhöhen.
 
Chemnitz ist ja die Vaterstadt von Karl Schmidt-Rottluff, deshalb stand und steht das Werkschaffen dieses Brücke-Künstlers im Fokus des Sammlungsbestandes und der Ausstellungstätigkeit. Aber aus dem Begleittext von Anja Ritter zur vorgenannten Kirchner-Ausstellung wird deutlich, wie eng der 1880 in Aschaffenburg geborene Ernst Ludwig Kirchner auch mit der sächsischen Industriestadt Chemnitz verbunden war. Kirchners Vater übernahm 1890 anfänglich eine Direktorenstelle in der Maschinenfabrik Haubold, zwei Jahre später dann einen Lehrauftrag für Papiermaschinen an der Höheren technischen Lehranstalt, der heutigen Technischen Universität Chemnitz. Die Eltern von Kirchner lebten bis zu ihrem Tod in den zwanziger Jahren in Chemnitz. Elf Jahre seiner Kindheit und Jugend verbrachte Kirchner in Chemnitz, anfangs war er drei Jahre Schüler am Königlichen Gymnasium, wo auch der vier Jahre jüngere Karl Schmidt lernte. Später wechselte Kirchner bis zum Abitur an das Chemnitzer Realgymnasium, weil er Architektur studieren wollte. Am Realgymnasium war auch Erich Heckel eingeschrieben. Nach dem Abitur gingen sowohl Kirchner als auch Heckel und Schmidt nach Dresden, um gleichfalls Architektur zu studieren, aber nur Ernst Ludwig Kirchner beendete das Studium. Während dieser Zeit freundete sich Kirchner eng mit dem Zwickauer Fritz Bleyl an - letztlich war der Drang zu malen und zu zeichnen so groß, daß die ganze Gruppe sich entschloß, das Risiko einzugehen, als freie Künstler zu arbeiten und zu leben. Im Jahre 1905 schlossen sich Kirchner, Heckel und Bleyl sowie Schmidt, der inzwischen den Ortsteilnamen 'Rottluff' seinem Namen hinzugefügt hatte, zur Dresdner Künstlergruppe „Brücke“ zusammen.
 
Obwohl die jungen Maler alle dem bürgerlichen Milieu entstammten, war ihr künstlerisches Wollen gegen die überkommenen muffigen Haltungen des Bürgertums, gegen die verknöcherte, wilhelminische „Staatskunst“ und zugleich auf eine freie, erotisch geprägte Darstellung weiblicher Akte gerichtet. Nicht akademisches Zeichnen nach antiken Statuen war ihr Credo, sondern Akt-Studien in freier Natur im 15 Minuten-Rhythmus an den Moritzburger Seen bei Dresden - „der Akt, die Grundlage aller bildenden Kunst“. Auch das Zeichnen und Malen an der Ostseeküste sprach von einem neuen Naturverständnis der Brücke-Künstler. Die Abbildung von Kirchners „Sitzender Akt mit Fächer“ von 1911 belegt dessen kraftvoll-üppige, erotisch strahlende Aktmalerei. Mit einiger Wahrscheinlichkeit saß Sidi Riha, die spätere Frau von Erich Heckel, damals Modell. Der in Sidi verliebte Kirchner hat es nie verwunden, daß sich die junge Frau später Heckel zugewandt hatte. Die Titelblätter der Jahresmappen – Geschenke an die Fördermitglieder der „Brücke“ - zeigen jeweils einen Brücke-Künstler. 1909 wurde der Titel-Druckstock mit dem Porträt Karl-Schmidt-Rottluffs von ELK geschnitten und von ihm in Rot gedruckt.


Ernst Ludwig Kirchner, Sitzender Akt mit Fächer, 1911 - Kunstsammlungen Chemnitz

Relativ schnell kam es zwischen den Brücke-Künstlern untereinander zu Unstimmigkeiten, Kirchner beanspruchte die Führung der Gemeinschaft, sah er sich doch als den Fähigsten und Produktivsten der Gruppe. Querelen um Liebschaften beschleunigten den Zerfall der „Brücke“, die sich 1911 auflöste. Noch im gleichen Jahr zogen alle Mitglieder der vormaligen Künstlergemeinschaft nach Berlin.
 
Für Kirchner erschlossen sich neue Sujets. Zum einen interessierten ihn hauptstädtische Bauten im Zusammengehen mit Brücken und Gewässern, zum anderen wurde er vom hektischen Treiben mit Trambahnen und Droschken auf Straßen und Plätzen erfaßt. Immer wieder gerieten die unterschiedlichsten Menschen - Proletarier und Bürgerliche, Putzmacherinnen und Kokotten in sein Blickfeld, später in seine Skizzenblöcke und auf Leinewand. Aber auch formal änderte sich seine Kunst. Statt Flächigkeit mit harten Konturen, versuchte er das Tempo, das hektische Hin und Her der über die Trottoirs flutenden Menschen zu erfassen. Sein Stil wurde fiebrig-nervös, auch setzte er eilige Bewegungsabläufe als simultane Elemente ins Bild. Diese großartige Arbeitsphase endete mit Beginn des 1. Weltkriegs 1914. Psychisch krank, physisch zerrüttet und medikamentenabhängig wurde Kirchner 1916 als kriegsuntauglich demobilisiert. Freunde, Sammler und Museumsleute unterstützen ihn finanziell, so daß er sich im Taunus und in der Schweiz behandeln lassen konnte. Ab 1918 lebte er dauerhaft auf der Staffelalb bei Davos, ab 1923 bezog er das Waldbodenhaus in Frauenkirch unweit von Davos, dort wohnte er mit seiner Lebensgefährtin Erna Schilling bis zu seinem Tod im Jahre 1938. In den zwanziger Jahren gesundete Kirchner langsam, seine künstlerische Kraft kehrte zurück. Er zeichnete wieder Akte, bildhauerte in Holz, fotografierte leidenschaftlich, malte die spröden einheimischen Bauern und erschloß sich malerisch die imposante Bergwelt der Schweiz. Auch sein grafisches Werk führte er fort. Er gestaltete Entwürfe für Wandteppiche und entwarf Bühnenbilder für die Davoser Laien-Theatertruppe. Die finanzielle Situation verbesserte sich durch Ankäufe deutscher Museen und gut betuchter Privatsammler. Zum Jahreswechsel 1925/26 reiste er nach Frankfurt, Chemnitz und Dresden. Zum einen hoffte er, daß ihm eine Professur an deutschen Kunstakademien angeboten würde, zum anderen wollte er seine betagte Mutter in Chemnitz besuchen. Bei seinen Spaziergängen durch Chemnitz faßte er den Entschluß, vom Kaßberg aus – dem „Balkon der Stadt“, dort wo er für einige Jahre das Königliche Gymnasium besucht hatte – ein Panoramabild der Industriestadt zu malen.


Ernst Ludwig Kirchner, Chemnitzer Fabriken, 1926 - Kunstsammlungen Chemnitz

Für ihn sahen die ungezählten Fabrikschornsteine, die aus den schneebedeckten Dächern ragten, wie Tannen der Schweizer Berge aus. Das Gemälde „Chemnitzer Fabriken“ von 1926 ist eines der Glanzstücke des Chemnitzer Kirchner-Bestandes. Im Gegensatz zu seinen vielen Berlin-Bildern, wo sich Kirchner zeichnend oftmals unter die Passanten mischte, hatte er das Chemnitzer Bild als perspektivisches Panorama-Gemälde angelegt. In seinem Davoser Tagebuch von 1926 hielt er fest: “[...] Das Gymnasium liegt in vornehmer Ruhe da, darunter am Berghang die Puffs und die Chemnitz. Sehr ulkig. [...]Die bekannten Villen der Reichsstraße vornehm in Gärten eingebettet, so sieht mein Chemnitz heute, wo ich es neutral betrachten kann, gar nicht so übel aus.“
 
Kirchner konnte ein aufgeschlossener Mensch sein, der Interesse für seine Gesprächspartner zeigte, er konnte aber auch ein leidenschaftlicher Hasser sein. So wollte er mit seinen ehemaligen Malerkollegen der „Brücke“ absolut nichts mehr zu tun haben. Ab dem Jahre 1928 folgte wieder ein Stilwandel , diesmal hin zur „analytischen Abstraktion“. Die Motive sind oftmals Tänzer, Akrobaten oder Bogenschützen. Auf der Rückseite von „Sitzender Akt mit Fächer“ (1911) hat er 1927/29 „Vier dunkle Akrobaten“ (unvollendet) in dieser Manier festgehalten. Seit 1930 verschlechterte sich Kirchners Gesundheitszustand rapide. Obwohl er noch arbeiten konnte, verfiel er öfters in tiefe Depressionen und anhaltende Mutlosigkeit. Mit der Aussonderung und der teilweisen Vernichtung seiner Werke aus deutschen Museen und Sammlungen durch die Nationalsozialisten verlor er alle Hoffnungen, daß er in Deutschland jemals wieder seinen angestammten Platz als Künstler erhalten würde. Im Juni 1938 beging Ernst Ludwig Kirchner Suizid. Er erschoß sich auf der Wiese vor dem Waldbodenhaus. Sein Grab bekam er auf dem Waldfriedhof Frauenkirch bei Davos.
 
Hinweis:
Bundeskunsthalle Bonn / 16.11. 2018 – 3. 3. 2019
Ernst Ludwig Kirchner - Erträumte Reisen
Museumsmeile Bonn, Friedrich -Ebert- Allee 4 - 53113 Bonn
T.: +49 228 9171-200
Ausrichter der Ausstellung mit über 180 Kunstwerken – Art Centre Basel, Kirchner Museum Davos, Bundeskunsthalle Bonn