Immer der Erste zu sein, das hat bei mir nicht ganz funktioniert.

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Immer der Erste zu sein,
das hat bei mir nicht ganz funktioniert.
 
Ich habe mein Leben als Zweiter begonnen, nämlich als zweiter Sohn meiner Eltern, und bin auch in meinem ersten Wettrennen Zweiter geworden. Meine Mutter war einfach schneller auf dem Weg zur Eisbude. Sie hat mir dann das Buch 3:2 geschenkt, in dem Fritz Walter die Freude ansprach, die man auch als Zweiter empfinden kann, und das ist mir bis heute in guter Erinnerung geblieben. Dort erzählt Walter, wie er 1954 als Kapitän der deutschen Mannschaft für sein Land in der Schweiz die Weltmeisterschaft im Fußball gewinnen konnte. Bevor das Turnier begann, hatte er mit seinem Verein, dem 1. FC Kaiserslautern, im Endspiel um die deutsche Meisterschaft gestanden und ziemlich hoch gegen Hannover 96 verloren. Als Walter nach der Niederlage deprimiert in das Trainingslager kam, überraschte ihn der Torwart der deutschen Nationalmannschaft, Toni Turek, indem er ihm zu seinem Erfolg gratulierte. Das sei doch etwas, das Endspiel zu erreichen! Darauf könne man doch stolz sein. Oder? Viele Spieler kämen im Laufe ihres Sportlerlebens niemals so weit, und er Turek - wäre mit seiner Mannschaft gerne einmal bis ins Finale gekommen, auch wenn er dabei als zweiter Sieger, also als Verlierer, vom Platz hätte gehen müssen.
     Fritz Walter wunderte sich. Ihm leuchtete nicht so recht ein, was der Tormann Turek da gesagt hatte. Zweiter zu werden, das war weder das, was Spieler und Sportler wollten, noch ein Ergebnis, über das sich die Anhänger einer Mannschaft im Stadion freuen könnten. Erster sein, den Sieg zu erringen, dafür nahmen die Aktiven und die Schlachtenbummler all die Mühe auf sich, das war ihr Ziel, das wollten sie feiern und darauf wollten sie anstoßen. „Winning isn't everything, it's the only thing“, wie Vince Lombardi, einer der berühmtesten Trainer im amerikanischen Football, in scharfer Zuspitzung gesagt haben soll. Lombardi hat in den 1960er-Jahren seine Mannschaft - die Green Bay Packers - zu vielen Meisterschaften und Titeln gefiihrt, und nach ihm ist heute die höchste Trophäe benannt, die man in diesem Sport gewinnen kann, und zwar als Sieger des Events „Super Bowl“, das seit mehr als fünfzig Jahren ausgetragen wird. Das Finale der American National Football League ist zu einem gigantischen globalen Medienereignis mit vielen Hundert Millionen Zuschauern geworden, die dabei eine eigene Partykultur entwickelt haben.
     „Mitmachen ist wichtiger als siegen.“ So klang das gestern, und so wurde den Knaben in den Jahren der Olympische Geist gepredigt, in denen ich als kleiner Hansel noch zur Schule ging. Aber heute denkt man anders, eben wie Vince Lombardi: „Siegen ist nicht alles, siegen ist das Einzige“ - das Einzige, um das es geht und das zählt. So ähnlich dachte sicher auch Fritz Walter im Sommer 1954 nach der Niederlage seines Vereins gegen Hannover. Diese Enttäuschung hat ihm vielleicht einen besonderen Kick gegeben. Denn bei der anschließenden Weltmeisterschaft erreichte er als Kapitän mit seiner Mannschaft erneut das Endspiel - ein schönes Wort übrigens, viel besser als Finale -, und diesmal gewann sein Team in Bern mit 3:2, und die deutschen Spieler wurden als gefeierte Sieger vom Platz getragen und zu Nationalhelden aufgebauscht. Ihre unterlegenen Gegner aus Ungarn mußten sich hingegen vor ihren Fans verstecken, von denen sie lange Zeit beschimpft und verachtet wurden - und nicht völlig abwegig scheint der gefährliche Gedanke zu sein, daß sich das Glück im Sport in der nachfolgenden politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Geschichte der 1950er-Jahre erneut zeigte und mit dem Wirtschaftswunder in Westdeutschland und dem Volksaufstand in Ungarn 1956 nicht zufällig die Sieger und Verlierer auf der gleichen Seite ausfindig machen ließen. Auf dieses Jahr kommt das Buch* ganz am Ende noch einmal zurück, wenn die Ungarn nicht Fuß-, sondern Wasserball spielen und die Goldmedaille bei den damaligen Olympischen Spielen gewinnen - ohne sich wirklich darüber freuen zu können.
     Wäre die deutsche Elf um Fritz Walter als Verlierer vom Platz gegangen, hätte man den damals 54-jährigen Spielführer und seine Mannschaft ziemlich schnell vergessen, und das Buch, das mir meine Mutter geschenkt hat, wäre nie geschrieben worden. Zweiter zu werden und zu sein, das macht rundherum wenig Spaß und bringt kaum Erträge. Jeder möchte Erster sein, ich auch, und das konnte ich dann im nächsten Wettlauf mit meiner Mutter endlich werden, als ich vor ihr an dem Ufer des Sees an kam, auf dem wir Bötchen fahren Wollten. Sie hat es ihrem Sohn sicher gegönnt und sich mit ihm über seinen Sieg gefreut. Erster zu sein verschafft auf jeden Fall ein köstliches Gefühl, an das man sich ein Leben lang gerne erinnert. Man genießt es, zu den Gewinnern zu gehören, und zwar zu den Siegern im Überlebenskampf, in dessen Verlauf die Evolution die Menschen zu dem hat werden lassen hat, was sie heute sind.
 
* Ernst Peter Fischer, „Erster sein“, 2018 Edition Zeitblende – Besprechung → hier.