Wej de Tant Sarah äam Nöötshimmed off der Meschd drömröm gelaaf äas

(Wir dürfen es nie vergessen, d. Red.)

von Rudolf Engel

Foto © Jacek Jędrzejczak
Wej de Tant Sarah äam Nöötshimmed
off der Meschd drömröm gelaaf äas
 
Die Überschrift zu der folgenden Geschichte
„Wie die Tante Sarah im Nachthemd auf dem Misthaufen umhergelaufen ist“,
das klingt zunächst lustig; es handelt sich jedoch im Gegenteil um das traurigste und
erschütternste Erlebnis meiner damit wohl zu Ende gegangenen Kindheit.
Die belastende Erinnerung daran habe ich bis heute mit mir herumgetragen.
 
 
Schon mit sieben Jahren war ich Meßdiener: An einem dunklen Morgen im Spätherbst, heute weiß ich, es war die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, erlebte ich auf dem Wege zur Kirche jene unverständlichen Geschehnisse, deren schockierende Eindrücke mich ein ganzes Leben lang nicht mehr losgelassen haben. Dieser denkwürdige Tag hat sich mit zwei unvergeßlichen Bildern  in meinen Gedächtnis eingeprägt: im Zentrum des einen steht unsere liebe, gute Tant Sarah, wie sie wimmernd und weinend ihre Habseligkeiten auf dem Misthaufen sucht, und das andere zeigt, wie in der erstmals für uns offenstehenden Synagoge der Kronleuchter krachend von der Decke stürzte.

Wenn ich so zurückblicke, dann hatte ich im Grunde genommen eine recht goldige Kindheit gehabt. Die schlimmen Sachen, die sind nicht bei uns zu Hause passiert, sondern außerhalb unseres bescheidenen, aber glücklichen Familienlebens. Und meine Mutter war in ihrer grenzenlosen Güte stets darum bemüht, selbst die bloße Kunde solcher schlimmen Sachen möglichst von mir fern zu halten. Doch sie konnte nicht ahnen noch verhindern, daß ich als Siebenjähriger an diesem Novembermorgen, in dem es zunächst noch so dunkel war wie im Magen einer Kuh, etwas Schreckliches erleben mußte:
Ich war in dieser Woche an der Reihe, die Messe zu dienen. Und da wir abseits vom Ort, im Zollhaus wohnten und ich also einen langen Fußweg hatte, so bin ich schon gegen sechs in der Früh von Zuhause fortgegangen.
Es war in der Tat noch stockfinster; aber ich fürchtete mich nicht, den langen Weg zur Kirche allein zurückzulegen. Mutter hatte mir von Anfang an, als ich Meßdiener wurde, das Gefühl der Sicherheit mit auf den Weg gegeben und mir versichert, daß mein Schutzengel immer mit mir ginge.
Was hätte geschehen können? Und war ich doch schon fast im Dorf angekommen; wie konnte ich ahnen, dass ich gleich darauf dem Teufel begegnen würde!
 
Schon als ich bei der Siedlung ankam, habe ich drüben an den Häuserfronten in der Gegend vom Koschder Bäcker helle Feuerscheine flimmern sehen, so, als ob es dort brennen würde. Ob in dieser Nacht in diesem Viertel wirklich Feuer gelegt wurde oder, ob der helle Schein nur von erleuchteten Fenstern im sonst ganz im Dunkel liegenden Dorf herrührte, weiß ich nicht mehr; aber umso genauer weiß ich, was in dieser Nacht bei „Tant Sarah“ geschehen ist. Mir ist selbst nicht so recht bewußt, warum ich hier noch innehalte, die Geschichte zu erzählen; aber meine Gedanken führen mich spontan an jene Stelle zurück, an der ich etwa zwei Jahre zuvor erstmals, wenn auch nur auf einem Foto, dem „Führer Adolf Hitler“ gegenüberstand.
Wie schon erwähnt, war das Elternhaus meiner Mutter eine kurze Zeit lang auch mein Elternhaus, bevor wir Anfang 1936 ins Zollhaus umgezogen sind, das meine Eltern gekauft hatten, als die Franzosen abgezogen sind.
Also, ann jenem dunklen, ziemlich frostigen Novembermorgen also war ich allein unterwegs vom Zollhaus "iwer de Mill", durchs Dorf zur Kirche, zur Schulmesse...Der gerade Siebenjährige hatte sich wie immer, wenn er Meßdienst hatte, kurz nach sechs von Mama Lisa wecken lassen. Denn, um gegen dreiviertel Sieben in der Sakristei zu sein, mußte noch ein langer Weg zurückgelegt werden. An diesem Morgen aber wurde ich zwar pünktlich geweckt, verließ auch pünktlich das Elternhaus und kam zügig an der Siedlung vorbei; sonst aber stimmte nichts mehr am Ablauf des weiteren Tagesgeschehens. Weder war die lange Dorfstraße so dunkel wie sonst noch kam ich an diesem Morgen rechtzeitig zur Messe; ich kam überhaupt nicht zur Messe...
Hatten wir Kinder bis dahin aus gutem äußeren Anlaß und tiefem inneren Glauben das beruhigende, unhinterfragte Bewußtsein, die ganze Welt sei, so wie wir sie täglich zwischen Weihnachten und Pfingsten, zwischen Eintopfsonntag und Erntedankfest erlebten, diese Welt also sei völlig in Ordnung, denn ganz unter der Gnade und dem Segen Gottes und ebenso recht nach den Weisungen und Befehlen unseres „Führers“; an diesem Dienstagmorgen erfuhr ich in meiner kindlichen Einsamkeit auf erschreckendste Weise, daß es zwischen Mensch und Mensch und vielleicht auch zwischen dem lieben Gott und der "Vorsehung" einen Unterschied geben mußte, denn das Unbegreifliche, was ich sah, hörte und in meiner verstörten Seele empfinden mußte, paßte überhaupt nicht mehr in die Grenzen der bisher gewohnten Ordnung.
Als ich von der Siedlung aus drüben in der Nähe vom Koschder Bäcker den hellen Schein zwischen den Häusern sah, bin ich neugierig geworden und so schnell ich konnte den „Miller Berg" hoch gelaufen. Und oben angekommen, fiel mir schon von weitem auf, daß ein Haus in der sonst um diese Zeit so dunklen Hausbacherstraße in seinen beiden Etagen hell erleuchtet war. Je näher ich kam, desto mehr sah ich Einzelheiten, deren Ursachen ich mir nicht erklären konnte:
Als hätte es im Innern dieses ziemlich schmalen, zweistöckigen Hauses eine gewaltige Explosion gegeben, derart war das ganze Inventar, waren Tisch und Stuhl entzwei, Geschirr in Scherben und Wäsche in Fetzen. Und all die schönen neuen Schuhe aus ihren Schuhschachteln herausgerissen und vom kleinen Laden in Parterre herausgeschleudert und alles Kleinmöbel und Porzellan aus der darüber liegenden Wohnung, sogar die Federbetten aufgeschlitzt und durch die zertrümmerten Fenster teils auf den schmalen Vorhof, teils auf den Misthaufen davor, teils bis auf die Straße hinaus geschleudert und zerstreut...
Und zwischen all dem zerstörten Gerümpel einsam und wimmernd eine offensichtlich von dem Überfall völlig überraschte, nur im dünnen Nachthemd bekleidete, eine gänzlich verstörte alte Frau, in der ich die liebe "Tant Sarah" erkannte...
Ich kann mich zwar nicht erinnern, daß wir jemals bei "Tant Sarah" unsere Schuhe gekauft hätten. Wahrscheinlich waren die aus ihrem Laden wesentlich vornehmer und teurer als die vom Baltessen Schouschder. Aber weder die Bergesch noch die Liescher hatten je etwas gegen diese Leute, bei Gott nicht; jeder in den beiden Großfamilien redete immer nur Gutes über unsere jüdischen Dorfbewohner.
In den Aufzeichnungen meines Vaters über seine Kindheit heißt es dazu an einer Stelle:
"Wir mußten, wenn wir zur Kirche oder zur Schule gingen, immer am Haus der Großeltern vorbei. Aber wir gingen selten vorbei, ohne noch schnell hineinzuspitzen. Da gab es dann immer etwas, entweder eine Schmier oder sonst was. Neben unsern Großeltern wohnten Juden, es waren Handelsjuden. Da ging ich immer hin, in den Stall oder ans Fenster. Von den Juden bekamen wir Kinder dann immer, wenn die Osterzeit war, Matzenkuchen, das sind die ungesäuerten Brote, die die Juden während des 40tägigen Fastens essen müssen. Wenn sie den Matzen leid waren, dann bekamen wir ihn. Als wir schon größer wurden, mußten wir etwas dafür tun: Die Juden durften ja am Sabbath nichts arbeiten, nicht das Geringste, und da waren die streng drin! Dann mußten wir ihnen den Ofen schüren oder das Licht an- und ausmachen, das durften die alles nicht tun. Auch in die Synagoge ließen sie einen ausnahmsweise hinein, um die Kerzen auszumachen. Neben der Synagoge stand ein Birnbaum. Da haben wir uns manchmal davon geholt. Die schmeckten sehr gut und sehr süß."
Die Stelle belegt, wie die Brotdorfer und auch unsere Familie mit den Juden bis dahin zusammengelebt hatten. Obwohl wir also nicht bei Sarah kauften, kannten wir die freundliche alte Dame gut; wie hätten wir sie sonst "Tant Sarah" genannt. Sie selbst hatte keine Kinder, aber sie hielt uns öfter freundlich an, wenn wir an ihrem Haus vorbeiliefen, und meistens steckte sie uns ein süßes "Gutzjen" zu...
Sie gehörte zu den Leuten, die wir Juden nannten; aber das hatte eigentlich nichts Ausgrenzendes zu sagen. Doch wenn ich mich so recht erinnere an all die vielen noch im Gedächtnis gebliebenen Spielsituationen von damals: Judenkinder waren selten dabei. Warum eigentlich nicht? Nachher, beim Dienst im Jungvolk, da war es ja klar; da durften keine Judenkinder mitmachen, das war einfach so. Aber auch schon vorher waren wir eigentlich nur immer ganz kurz mit ihnen in Berührung gekommen, - vielleicht, weil sie feiner angezogen waren wie wir und ihre Kleider zu schade waren für unsere rauhen Spiele am Seffersbach, auf dem Schuttplatz, auf der Kuhweide oder im Kammerforst...
Die Männer in den braunen Uniformen, führten sich bei allem, was in dieser Nacht, an diesem Morgen geschehen ist,  so laut und rechthaberisch auf und taten so auffällig wichtig beim Zusammenschlagen der Möbel, beim Zerreißen des Bettzeugs und Umherschleudern des neuen Schuhwerks und auch beim breitbeinigen Wachestehen vor der weit aufgerissenen Haustür.
 
Diese Männer machten mir derart Angst, und der schreckliche Anblick der Verwüstung ließ mich so erstarren, daß ich einfach nicht mehr das tun konnte, was ich in diesem Augenblick tun wollte: zu der armen Tant Sarah zu gehen und sie einfach fest bei der Hand zu halten. Ich konnte auch nicht begreifen, daß sie in ihrem Elend bei den braunen Männern nicht einen Schimmer von Mitleid erregte, wie sie so spärlich im bloßen Nachthemd bekleidet auf dem schmierigen Misthaufen umhertippelte und zwischen all ihren Sachen umherirrte nicht laut weinend, nur elendiglich wimmernd.
 
Und ihr alter gebrechlicher Mann, der ist da an der Hauswand, auf seinen Stock gestützt, mit seinen zittrigen Beinen gestanden. Den Alten hatten wir kaum gekannt; er war nie nach draußen gekommen; muß wohl schwer an Gicht gelitten haben. Jetzt, da dies alles passiert ist, da ist er also wie versteinert, tief gebückt und auf seinen Stock gestützt, in sich eingesunken an der Hauswand gestanden, die Augen weit aufgerissen und ins Leere starrrend. Ab und zu wurde er von den wichtig tuenden Braunhemden wie aus Versehen im Vorbeieilen angerempelt; dann wackelte er ein wenig, so wie man einen Holzstumpf anstößt; aber er ist  nicht umgefallen. Und die Tant Sarah ist immer noch ganz verstört auf dem Misthaufen umhergestakst, hat in ihren Sachen herumgestochert und immerfort für sich dahingestammelt:
 
"Oh gödööh, oh gödööh!  Wat hun mir dann nur verbrooch?"
 
Ja, was hatten sie schon verbrochen, und wie hätte ich kleiner Junge ihnen auch helfen können, ohne zu begreifen, was hier eigentlich gespielt wird. In diesem Augenblick, an dem ich vor purem Entsetzen garnicht mehr merkte, daß die Glocken schon längst für die Schulmesse "zesumme gelaud" hatten, jetzt stand der arme alte Mann immer noch da draußen im Lichtkegel des Chaos, regungslos wie ein Standbild des Propheten Moses, den Buckel noch weiter vorgebeugt, beidhändig auf seinen Stock gestützt. Auch er hatte offensichtlich noch nicht begreifen können, was hier geschehen war, denn die Züge seines herabgesunkenen Gesichtes blieben verzerrt und regungslos, und die weit geöffneten Augen starrten über die Haufen der zerstörten Habseligkeiten hinweg in eine unendliche Ferne.
Tante Sarah aber, deren leichtes Nachthemd und aufgewickeltes, langes Haar zu ihren heftigen Hin- und Herbewegungen eifrig im Winde mitwehten, Sarah irrte immer noch wimmernd in dem Gerümpel umher, als ob sie einen Anfang suchen müßte, um die schon vollendete Zerstörung noch nachträglich aufzuhalten.
Damit aber verwischt sich das eigentlich unbeschreibliche Bild in meinem Gedächtnis...Ich kann mich auch nicht erinnern, Tant Sarah und den greisen Moses nach diesem Morgen je wieder gesehen zu haben.
 
aus:
Rudolf Engel:
Dreimal >Heim ins Reich< und zurück,
Hamburg, 2003