„darauf standen zwei Gläser …“

Zwischen Arak und Arrak – zu einer Getränkefrage bei Rafik Schami

von Marion Lüthe und Lothar Bluhm

Arak El Namroud © Rickjpelleg RJP
„darauf standen zwei Gläser …“
 
Zwischen Arak und Arrak – zu einer Getränkefrage bei Rafik Schami
 
Von Marion Lüthe und Lothar Bluhm
 
Wer den Autor Rafik Schami und seine Literatur liebt, wird bestimmt auch den Roman Sophia oder Der Anfang aller Geschichten von 2015 gelesen und in der erzählten Welt wahrscheinlich so manches wiederentdeckt haben, was er schon aus früheren Büchern kannte. Auch in Sophia erzählt der syrisch-deutsche Autor von seiner Sehnsuchtswelt, von Damaskus, in dessen christlichem Viertel er einst aufgewachsen war und daß er seit seiner Flucht vor dem Terrorregime des Assad-Regimes nicht mehr wiedergesehen hat. Der Autorenname Rafik Schami, ein Pseudonym des unter dem bürgerlichen Namen Suheil Fadél geborenen Schriftstellers, verweist mit seiner Bedeutung ‚Damaszener Freund‘ bereits auf die enge Verbindung mit der Stadt. Seit Ende der 1970er Jahre gehört der Autor zum festen Bestand der deutschen Literatur und kann inzwischen zu den erfolgreichsten Autoren der deutschsprachigen Welt gezählt werden. Als Autor vielfach ausgezeichnet, sind seine Bücher Bestseller und werden in viele Sprachen übersetzt. Zuletzt wurde ihm 2018 der Elisabeth-Langgässer-Literaturpreis zuerkannt.
 
Immer wieder wird der Leser von Rafik Schamis Literatur in den Erzähl- und Erinnerungsraum des alten oder neuen Damaskus und in die vielgestaltige Welt des arabischen Lebens geführt. Märchenhaftes steht neben Sozialkritischem, Autobiographisches neben der distanzierten politischen Analyse. Die Romane und Erzählungen bieten dem Lesevergnügen eine fabulierkräftig entwickelte orientalische Bilderwelt. In Sophia oder Der Anfang aller Geschichten wird der Leser in eine Rückkehrer- und Spionagegeschichte hineingezogen, die im Horizont der Ereignisse rund um den Arabischen Frühling und seine Folgen situiert ist. Vor allem ist der Roman aber eine Erzählung über die Kraft der Liebe.
 
Zur Szenerie, die dem Leser von Rafik Schami aus vielen Werken vertraut ist, gehört das gemeinsame Essen und Trinken, mehr noch: das Zelebrieren des sinnlichen Genusses. Und so mündet eine Liebes- und Kußszene zwischen dem alten Karim, dem „begnadeten Genießer“, und seiner Geliebten Aida unvermittelt in gemeinsamen Tafelfreuden im Schatten einer Gartenmauer: Karim serviert auf einem Tablett „zwei Gläser, eine Flasche Arak, eine Glaskaraffe mit Wasser und Eiswürfeln und eine Schale mit gesalzenen Erdnüssen“. Später wird er „das Tablett mit der Arakflasche, der leeren Karaffe und den Gläsern“ wieder abräumen, um seiner Aida ihr Lieblingsgericht zuzubereiten, „Kebbeh im Backofen“.
 
Das alte Paar mit unterschiedlichen Religionszugehörigkeiten findet im Roman in seiner unkonventionellen und von vielen skeptisch beobachteten Liebesbeziehung die Kraft, den verfolgten Salman vor dem Intrigen- und Terrorsystem des Assad-Regimes zu verstecken und schließlich zur Flucht zu verhelfen. Beim letzten gemeinsamen Mahl vor der Flucht gibt es ein „Drei-Gänge-Menü“ mit „Tabuleh-Salat als Vorspeise“, „gefüllte Weinblätter als Hauptgericht“ und „Crème Caramel als Dessert“. Ob auch ‚Arak‘ serviert wurde, erfährt der Leser nicht, aber es ist anzunehmen.
 
Der aufmerksame Leser von Rafik Schamis Werken wird sich an vergleichbare Szenerien vielfältig erinnern. Auch in Die dunkle Seite der Liebe, Rafik Schamis voluminöser Roman von 2004, der gern als Höhepunkt seines bisherigen literarischen Schaffens gewertet wird, kreist alles um eine Liebesbeziehung. Der Autor entwickelt eine Romeo-und-Julia-Geschichte vor dem Hintergrund seiner damaszenisch-arabischen Erzählwelt. Jenseits aller dramatischen Entwicklungen begegnet aber auch hier eine Festkultur, die erzählfreudig beschrieben wird. Im Kapitel „Hochzeiten“ mündet das Fest in einer großen Zusammenkunft, mit Gästen aus nah und fern. Es gibt „Fleisch und Wein“, „Pistazien und Bonbons“: „Sieben Tage lang berauschten sich die Leute mit Unmengen Wein und Arrak.“ Und als nach Tagen des Feierns „den Feiernden im Kirchhof Arrak fehlte, werden noch „zwei Kanister Arrak aus dem Vorratslager“ beschafft. Das Getränk gehört nicht nur zum Fest, sondern auch zum Erzählen. Um etwa Gibran im Roman zum Fabulieren zu bewegen, braucht man nur „fünf Piaster“, damit er sich davon „einen Schluck Arrak kaufen konnte“; betrunken erzählt er umsonst, aber „dafür war ein halber Liter hochprozentiger Arrak nötig“. Natürlich trinken auch die Frauen in der erzählten Welt des Romans, ihnen wird als Vor- oder Zwischenmahlzeit „Tabbuleh“ serviert, ein landestypischer gemischter Salat, wozu sie „verdünnten und eisgekühlten Arrak“ trinken.
 
Natürlich hat jeder Genuß seine Gefahren. Und so erfährt man im Roman über die Figur des Nassif, daß „der Arrak […] dem Mann sein Hirn zerfressen“ hatte. Und auch die „Vorliebe des Innenministers für Arrak“ ist nicht gefahrlos. Auch in anderen Werken Rafik Schamis werden solche Gefahren genannt. In einer Geschichte innerhalb seiner „Reden gegen das Verstummen“ Vom Zauber der Zunge (1991) berichtet der Autor so vom Kutscher Salim, einer seiner Lieblingsfiguren, die in den Geschichten des Autors selbst als wunderbarer Erzähler auftritt, daß selbst er „manchmal unerträglich grob und stur“ war, „wenn er viel Arrak getrunken hatte.“ In der Erzählung Takla oder Warum mein Großvater vierhundert Jahre sein Gewehr trug, einem der Märchen aus Malula (1987), sucht der fünfzehnjährige Enkel für sich die Geschichte seines verstorbenen Großvaters zu rekonstruieren. Unter den verschiedenen Erinnerungen ist die der Mutter nicht die freundlichste: „[…] dein Opa hat oft eine Arrakflasche, aber nie eine Flinte in der Hand gehabt, er war immer besoffen und schlug deine Oma, Gott sei ihrer Seele gnädig.“
 
Auch im Roman Die Sehnsucht der Schwalbe (2000) ist es eine siebentägige arabische Hochzeitsfeier, die den Rahmen für eine Erinnerungserzählung an den Vater bildet, bei der das Getränk zur Szenerie unabdingbar dazugehört: „Dann setzte er sich hin“, erfährt der Zuhörer wie der Leser, „und ließ sich von seiner Frau bedienen. Er hatte zwar schon im Restaurant gegessen, aber die Mutter setzte ihm ein Gläschen Arrak und einen kleinen Teller mit Erdnüssen und Kürbiskernen vor und der Vater trank [...].“
 
Einen ganz eigenen Funktionswert gewinnt das Getränk im Roman Das Geheimnis des Kalligraphen (2008), ein – wenn man so will – weitgefächertes Sittengemälde der syrisch-damaszenischen Welt in den 1950er Jahren. Auch hier ist der Kontext ein Hochzeitsfest, aber der Anlaß für das Trinken ist sehr viel konkreter. Bei ihrer arrangierten Hochzeit nimmt Dalia nicht ohne Grund „einen kräftigen Schluck“ vom „Arrak“, der dann auch in der Hochzeitsnacht selbst eine nicht unwichtige Rolle spielt: So wird dem frisch getrauten Paar „dezent“ eine Flasche „Arrak“ ins Zimmer gestellt. Und so wie der frisch Angetraute, Salah, kräftig dem Alkohol zuspricht, muß dies auch Dalia tun: „Ich kippte das ganze Glas in mich hinein und fühlte, wie der Schnaps in meinem glühend heißen Inneren zischte.“ Der Schnaps ist nötig, denn: „Alkohol macht Mut.“ Gleichwohl wird die Hochzeitsnacht zu einem Desaster. Daß der ziemlich unglücklich agierende Salah im Roman drei Wochen später erschossen wird, setzt das Unglück fort, hat dann aber mit dem Transport von Waffen zu tun, nicht mit dem Schnaps oder der verunglückten Hochzeitsnacht. Als Mutmacher begegnet der „Arrak, im Spaß Löwenmilch genannt“, noch an so mancher anderen Stelle im Roman.
 
Der ‚Arrak‘ schenkt nicht nur Mut und hilft nicht nur über so manche Klippe der Verzweiflung hinweg, er kann auch ein ganz eigener Schutz sein – jedenfalls ist er es den immer wieder bedrohten aramäischen Dorfbewohnern von Malula, ein christliches Bergdorf, aus dem Rafik Schamis Familie stammte, wie der Autor in Bettina Wilds schönem dtv-Portrait 2006 zu berichten weiß: „Nicht selten sah ich,“ erinnert er sich, „wenn ich später Asterix gelesen habe, Malula vor meinen Augen, denn so wie die kuriosen Franzosen stritten die Malulianer miteinander wegen jeder Kleinigkeit, doch sobald das Dorf in Gefahr geriet, standen sie zusammen. Sie hatten keinen Zaubertrank, sondern Arrak, einen 50-60 %-Anisschnaps, und die Felsen, die für Fremde unüberwindbar waren und den Malulianern Schutz boten.“
 
In seiner „Rede gegen das Verstummen“ Die sieben Siegel der Zunge erzählt Rafik Schami, wie so oft, vom Kutscher Salim, einem Liebling der Märchenfee. Als die Fee in Rente geht, droht dem alten Kutscher, genannt Onkel Salim, sein Erzähltalent verloren zu gehen. Seine Freunde sinnen auf Abhilfe und sie wissen, Essen und Trinken gehören zum Erzählen: „Nichts gegen die Kochkunst deiner Frau“, bietet so sein Freund, der alte Lehrer, an, die Erzählblockade des alten Kutschers zu beheben, „aber wenn Salim den Tabbulesalat meiner Frau mit dem kühlen Arrak genießen würde, dann würdet ihr sehen, wie er Scheherazade mundtot redet.“ Allerdings darf es dann nicht zu viel des Guten sein. Und natürlich übertreibt es Onkel Salim mit den Genüssen, er betrinkt sich, bekommt Blähungen und kann nicht reden. Erst als seine Freunde sich entschließen, reihum auch eigene Geschichten zu erzählen, wird am Ende märchengerecht alles wieder gut und der alte Kutscher gewinnt sein Erzählvermögen zurück.
 
Onkel Salim, der Erzähler, ist eine Schöpfung des Erzählers Rafik Schami, ein Bindeglied zwischen der Welt des verlorenen Damaskus und der Welt des Autors im fernen Deutschland. Eine moderne Erzähltheorie würde diese Erzähl- und Erzählerfigur als metafiktional bezeichnen. So sitzt der Kutscher in einer anderen ‚Rede gegen das Verstummen‘, in Warum ich über den Tod einer Figur weinte, als imaginäre Erzählerfigur auf der Schulter der autorialen Erzählerinstanz, der in Szene gesetzten Figur Rafik Schami in der Erzählwelt des Autors Rafik Schami, und flüstert dem Rafik Schami in der Erzählung Erzählungen ein, die nach und nach zu einem Roman werden, zu Rafik Schamis Eine Hand voller Sterne. Die Einflüsterungen des metafiktionalen Kutschers sind märchenhaft und bunt, aber dem Rafik Schami der Erzählung in seiner ‚Rede gegen das Verstummen‘ zu unpolitisch, so daß er seinen imaginären Erzählhelfer auf das Politische und die Revolution zu verpflichten sucht – mit wenig Erfolg allerdings: „Mir ist ein kühler Arrak und ein deftiges Essen näher als deine Revolution“, antwortet der Kutscher auf der Schulter der Erzählerfigur: „Es fehlt nur, daß ich für das Vaterland den Heldentod sterbe und irgendeinen Deppen darum bitte, dies auch noch meiner Frau zu sagen. […] Nein, meine Frau, die du so toll geschaffen hast, wird den Kopf schütteln und sagen: ‚Dieser Dummkopf! Er ist bestimmt besoffen gewesen und auf eine Mine getreten! Schon immer habe ich ihm gesagt, er soll mit dem Arrak und dem Vaterland Schluß machen. An einem von beiden wird er krepieren.‘“ Und tatsächlich läßt der Erzähler den alten Kutscher im Roman Eine Hand voller Sterne am Ende auch sterben, zwar nicht den Heldentod und auch nicht am Arrak, aber dennoch. Und niemand war darüber trauriger als der Erzähler selbst, jedenfalls der aus der ‚Rede gegen das Verstummen‘.
 
In Eine Hand voller Sterne (1987), auf die die Erzähl-Rede Warum ich über den Tod einer Figur weinte hinweist, ist Onkel Salim derjenige, der den Ich-Erzähler auf die Idee bringt, ein Tagebuch zu führen und ihm damit den Weg weist für seine spätere Entwicklung zum Lyriker und kritischen Journalisten. Und natürlich begegnet das Getränk auch in diesem Roman immerhin so augenfällig, daß in einem Lesequiz der Schweizer Zentrale für Klassenlektüre in Solothurn für Schülerinnen und Schüler des 7. bis 9. Schuljahrs als erste Frage zum Werk danach gefragt wird: „Wie riecht, gemäß Rafik, Arrak?“ Die richtige Antwort lautet: „Er riecht sehr scharf und nach Seife.“
 
Dem aufmerksamen Leser wird vielleicht nicht nur das genannte Getränk in den Werken Rafik Schamis aufgefallen sein, sondern auch seine verschiedene Schreibweise. Zumeist begegnet es als „Arrak“, manchmal aber auch als „Arak“. Die unterschiedliche Schreibweise wäre überhaupt kein Problem, wenn es sich bei ‚Arrak‘ und ‚Arak‘ nicht tatsächlich um zwei verschiedene Alkoholika handelte. Der ‚Arrak‘ ist – wie man dem entsprechenden Wikipedia-Eintrag entnehmen kann – eine aus Palmsaft oder Zuckerrohr und Reismaische gewonnene Spirituose, die wohl aus Indien stammt und vor allem in Südostasien produziert wird. Als wohl eine der ältesten Spirituosen gilt sie als Vorreiter etwa von Raki, Wodka oder Rum. Traditionell in Holzfässern zur Reife gebracht, besitzt der ‚Arrak‘ eine rotbraune Färbung, der gefilterte ein leicht gelbe. Der ‚Arrak‘ wird – wieder mit Bezug auf den entsprechenden Wikipedia-Artikel – oft mit dem arabischen Anisbranntwein ‚Arak‘ verwechselt, der im Unterschied zu dem süßlichen Reisbranntwein aus dem Südosten Asiens aber klar und ungesüßt ist. Als Ursprungsland des ‚Arak‘ gilt der Libanon, wo er wie im gesamten Nahen Osten zu den traditionellen alkoholischen Getränken gehört. Er wird gern gemischt und nimmt in Verbindung mit Eis oder Wasser eine milchige Färbung an.
 
Gleich wie das Getränk in den Romanen und Erzählungen Rafik Schamis geschrieben wird, ist ohne Zweifel immer nur der ‚Arak‘ gemeint, der arabische Anisbranntwein. Möglicherweise ist dem Autor und den Verlagslektoren der Unterschied zum ‚Arrak‘ nicht bewußt gewesen. Augenfällig scheint in dieser Hinsicht inzwischen jedoch eine Änderung im Wissensstand eingetreten, da in den letzten Veröffentlichungen nur noch ‚Arak‘ begegnet.
 
Aber wie auch immer: Ob „Arrak“ oder „Arak“ – in Rafik Schamis Werken ist das Getränk ein immer gleiches wunderbares Erzählrequisit, das zur erzählten aramäischen und damaszenisch-arabischen Welt des Autors ganz wesentlich dazugehört.
 
 
© 2018 Marion Lüthe und Lothar Bluhm

Redaktion: Frank Becker