Emilia aus der Kiste

Lessings "Emilia Galotti" in der Bochumer Inszenierung von Tina Lanik knirschte (bei jeden Schritt)

von Frank Becker

Emilia aus der Kiste

oder: die Entdeckung der Langsamkeit


Regie
: Tina Link - Bühne: Magdalena Gut - Kostüme: Su Sigmund - Musik: Rainer Jörissen - Licht: Falk Hampel - Dramaturgie: Dietmar Böck
Besetzung: Emilia Galotti: Hanna Scheibe - Odoardo Galotti: Klaus Weiss - Claudia Galotti: Manuela Alphons - Hettore Gonzaga, Prinz: Hannes Hellmann - Marinelli, Kammerherr: Matin Horn - Battista: Christoph Pütthoff - Graf Appiani: Henning Hartmannn, Gräfin Orsina: Christine Schönfeld - Angelo: Alexander Maria Schmidt

Landauf, landab wird Lessings Trauerspiel derzeit der Curricula wegen über die Bühnen des Landes gezerrt. Auch in Bochum ist sie gestern in einer Inszenierung von Tina Lanik aufgeschlagen - allerdings ohne für wesentliche Erschütterung zu sorgen.


Die Welt, ein Scherbenhaufen


Das erste Bild besticht: eine leere, tiefe Bühne, sanft ausgeleuchtet und bedeckt mit zerbröseltem Glas, auf der vorne

Emily
zerstreut Prinz Hettore Gonzaga (grobschlächtig: Hannes Hellmann) seine Posteingänge durchblättert - und in deren Tiefe Emilia (mädchenhaft: Hanna Scheibe) im goldgelben Kleid hoffnungsfroh zur Gitarre Emily Dickinsons "I Went To Heaven" anstimmt, aufgenommen vom O-Ton. Die beiden seit einem Kirchenbesuch am nämlichen Morgen ineinander Verliebten unterschiedlichen Standes trennen Herkunft und Schicksal, so wie die neun formatfüllenden Trennwände, die unvermittelt vom Bühnenhimmel fahren und den Traum einer unerfüllbaren Liebe gnadenlos, in voller Raumbreite und nicht reparabel zerteilen.
Ein großartiger Bühnenbild-Entwurf von Magdalena Gut. Sie kommt während der gesamten Spieldauer mit einem Sessel, den variablen Wänden, der gleißend glasbedeckten Fläche, die jeden Schritt wie die verbogene Moral der Zeit knirschen läßt, zwei Bildern, die man nie sieht und einer Kiste aus. Da keimt Hoffnung auf, es könne ein besonderer Theaterabend werden.

Zeitblenden

Mit wohltuender Ironie inszenierte Zeitblenden lassen gewesene und kommende Handlungsstränge nachvollziehen. Da rennt in heller verliebter Aufregung Emilia mit geschürzten Röcken durch die auf und nieder fahrenden Raumteiler nach der Kirche nach Hause, um der Mutter atemlos zu bekennen, daß sie sich am Tag ihrer geplanten Vermählung mit den Grafen Appiani unsterblich verliebt hat - in den Prinzen. Da wird, während unvermittelt Schüsse fallen, in einem Fenster ("Sie sehen demnächst...") der ruchlose Plan Marinellis sichtbar gemacht, mit einem Überfall die Hochzeit Emiliens zu verhindern und sie dem Prinzen zuzuführen. Das war witzig und bekam amüsierte Lacher. Das

Hannes Hellmann - Martin Horn
Konzept schien aufzugehen. Humor wurde
von Tina Lanik in ihrer Inszenierung der bissigen Tragödie Lessings ohnehin verhältnismäßig groß geschrieben. Daß der Prinz wie Rumpelstilzchen herumspringt, weil er die Galotti will, ist allerdings gar nicht komisch. Das wirkt nur aufgesetzt, ebenso wie die armrudernde Hilflosigkeit Odoardos. Hingegen bekommt Martin Horn als Kammerherr Marinelli Raum für sein komödiantisches Talent, das er brillant und sogar in der Übertreibung so ausgewogen einsetzt, daß ihm schon nach Kurzem (neben einem tadellos sitzenden Anzug und einer Kollektion feiner Krawatten) die Krone dieser Inszenierung gehört - und er muß sie bis zum Schluß auch nicht mehr absetzen.

Irrer Blick


Wen haben wir denn da noch: der ehrpusselige Vater Odoardo Galotti (Klaus Weiss) bleibt butterweich kontur- und charakterlos, man mag ihm weder seine Aufregung um die Ehre der Tochter, noch Zorn oder Kummer abnehmen. Die ihm angetraute Claudia geistert wie irre über die Bühne, schaut mit Wahnsinn im Blick meist blöd in der Szene herum, hat ein passendes lila Kleid an und überzieht maßlos. Manuela Alphons hat man mit dieser Anlage ihrer Figur keinen Gefallen getan. Die Gräfin Orsina (sexy: Christine Schönfeld) hat hingegen ein raffiniertes rotes Kleid, aber dazu braune Stiefel - das geht doch nicht! Ihre intriganten Möglichkeiten kann Schönfeld nicht ausschöpfen. Auch das

Christoph Pütthoff - Hanna Scheibe
"Mord"-Geschrei á la "J´accuse" hilft da nicht weiter. Das ist ein Jammer, denn der Disput Orsina/Marinelli birgt Köstlichkeiten. Graf Appiani (Henning Hartmann) hinterläßt keinerlei Spur, nicht einmal einen Eindruck, er sei da gewesen. Das mag im Sinne der Inszenierung liegen, was sich auch im Bild seines Abgangs zeigt: ein Schattenriß, der im Orkus der Historie klanglos verschwindet. Symbolik, wie die blutroten Handschuhe Marinellis nach der Meucheltat. Christoph Pütthoff in seiner kleinen Rolle des Battista hingegen hinterläßt durchaus Spuren. Er legt den Befehlsempfänger mit Gewissen sympathisch an: "Es geht mir durch die Seele, dieses `recht gern´!"

Emilia aus der Kiste

Emilia wird entführt, Appiani ermordet und das Schicksal nimmt seinen Lauf. Die Spießgesellen überwerfen sich kurzfristig bei der Schuldzuweisung, dann raufen sie sich im Interesse der Macht wieder zusammen. So  war das und so ist das. Lessing hat das fein beobachtet. Emilia wird in einer Kiste (!) aufs Lustschloß des Prinzen gebracht, wo sie aus

Hanna Scheibe
ihr herauskippt wie ein defekter "Jack-in-the-box". Auch das ist mit Witz angelegt. Doch sie scheint sich bald wieder bekrabbelt zu haben, denn man erfährt von Lustschreien aus des Prinzen Gemächern und trifft später auf eine etwas derangierte und dem strengen Vater gegenüber recht aufmüpfige Emilia. Der ersticht sie schließlich eher aus Versehen, nachdem lang (viel zu lang) über das Für und Wider des Sterbens aus möglicherweise beschädigter Ehre geredet worden ist. Hier setzt die Kritik an der Inszenierung an: das zieht sich in endloser Langsamkeit und mit quälenden Kunstpausen, als wolle Tina Lanik das Publikum mit Lessing bestrafen. Zusammen mit den bis auf Ausnahmen (s.o.) wenig interessant angelegten Charakteren ergaben sich so drei überwiegend ermüdende Theaterstunden mit wenigen bemerkenswerten Momenten.


Ein schöner Bogen am Schluß: während die Domestiken aufräumen, zückt
der Prinz die Füllfeder, um zu unterzeichnen, wozu er eingangs angesetzt hatte - ein Todesurteil.

Weitere Informationen unter: www.schauspielhausbochum.de
Fotos: Schauspielhaus Bochum/Wolfgang Silveri