Seh-Reise (41)

Einundvierzigste Ausfahrt: Braunschweiger Dom

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Frank Becker
Michael Zeller: Seh-Reise (41)
 
Mit Bildern durch das Jahr
 
41. Ausfahrt: Braunschweiger Dom
 

Blendung
 
Braunschweiger Dom, Gruft Heinrichs des Löwen“ – mehr steht nicht auf der Kunstpostkarte hinten, die mir der Zufall der Zahlen als zehnte aus dem Stapel für diese Woche zugespielt hat. Von meinen kurzen Reisen nach Braunschweig war mir keine Erinnerung an diesen Raum geblieben, und so landete das Bild als ein Fremdling im Rähmchen neben der Küchenspüle. Während der nächsten Tage könnte ich mir ja (m)ein ästhetisches Urteil darüber bilden.
Und jedes Mal, wenn der Blick auf diese Grabanlage fiel, war ich beeindruckt von ihrer Wucht und Einfachheit. Die Reduzierung der Formensprache auf Rundung und Quadrat, das Fehlen jeder Ornamentik, die delikate Nüchternheit der grauen Granitblöcke – nichts lenkt das Auge ab von dem gestellten Bauauftrag: für den Sarkophag eines Herrschers des frühen Mittelalters und seiner Frau das passende Gehäuse zu schaffen. Der gebaute Raum gleicht sich den beiden romanischen Steinklötzen an, die wohl unmittelbar nach dem Tod Heinrichs gehauen worden sind: Zur Rechten der Sarkophag des Herzogs, mit den unerbittlich harten Kanten des Rechtecks. Aufgeweicht durch die Rundung des Grabdeckels das steinerne Behältnis für seine Ehefrau daneben. Knapper sind die Macht- und Lebensverhältnisses einer Zeit zwischen den Geschlechtern nicht darzustellen: rund und eckig, rechts und links.
Mit diesen aufs äußerste zurückgenommenen Grundformen, die ihm der Bauauftrag vorgegeben hat, begnügt sich klugerweise auch der Architekt der Grablege. Deshalb war ich beim ersten Augenschein sogar noch geneigt, sie selbst in die Romanik zu setzen. Nur die akkurate Verfugung der Steinblöcke und ihr gut erhaltener Zustand machten mir klar, daß es sich bei dieser Fürstengruft um ein modernes Gebäude handeln mußte. Bloß wann? Wenn es in London oder Paris gewesen wäre, hätte ich auf die sogenannte Revolutionsarchitektur um 1800 getippt. Aber in Braunschweig?


Braunschweiger Dom Krypta Heinrichs des Löwen - Foto Braunscheiger Dom, Quelle: Wikipedia

Allerdings ließ ich mir das Sehvergnügen durch die stilistische Unsicherheit keineswegs trüben. Die Anpassung des Baumeisters an den Stil der Romanik, der Respekt, diese frühe, klare Ausdrucksform des Mittelalters zu wahren und weiterzuführen, zeigt Größe und nimmt selbst etwas von der lakonischen Schlichtheit der Romanik an. Meine Freude an dieser Architektur blieb die ganze Woche über ungebrochen. Eine gelungene Arbeit – das war das abschließende Urteil.
Und jetzt – wie gehe ich jetzt mit meinem ästhetischen Wohlgefallen um? Muß ich mich seiner schämen, nachdem ich Dehios „Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler“ zu Rate gezogen habe?
Zunächst fing alles so an wie erwartet. Die Baugeschichte des Braunschweiger Doms, den Heinrich der Löwe, Herzog von Sachsen und Bayern, 1173 in Auftrag gegeben hatte, nachdem er gerade von einer Pilgerreise ins „Heilige Land“ zurückgekehrt war. Eine „memoria“ wollte er sich damit schaffen, die ewige Erinnerung seiner Macht und Herrlichkeit. Auch als er in Reichsacht fiel, seiner Herzogtümer verlustig ging und nach England fliehen mußte, betrieb er von dort den Bau seiner Erinnerungs-Kirche weiter. Detailliert wird bei Dehio die weitere Baugeschichte aufgeführt, über die Jahrhunderte, das Äußere und Innere der Kirche beschrieben – und dann kommt die Krypta.
Mir schlägt das Herz bis zum Hals. 1935 … Schluß mit Kunst und Schönheit! Ich stürze, von einem Satz zum nächsten, hinab in die Untiefen der deutschen Geschichte, in die finsteren Schlünde des „Tausendjährigen Reichs“. Gibt es denn wirklich kein Entrinnen? Da wollte ich von einer Grablege des frühen Mittelalters berichten, vor mehr als achthundert Jahren. Und schlage auf, verwirrt und erschrocken, im Jahr des Herrn: 1935.
Damals wurde beschlossen, eigens einen Gruft-Raum zu errichten um die Sarkophage von Heinrich und seiner Frau Mathilde, als eine „Nationale Weihestätte“. Der Auftrag ging an die Brüder Walter und Johannes Krüger, die bereits im ostpreußischen Tannenberg das „Ehrenmal“ gebaut hatten, und wurde von ihnen in den folgenden Jahren ausgeführt.
Erst jetzt stolpere ich darüber, daß das Kreuz im Hintergrund gleichschenklig ist und damit die christliche Urform leugnet. Wie konnte ich das übersehen? Oder mir nichts dabei denken
 
Mit roten Ohren sitze ich da. Eine Woche lang hatte ich „Nazi-Kunst“ unter meinem Dach. Ich habe sie nicht nur nicht erkannt. Ich habe mich daran auch noch erfreut.
Meine Schuld. Die unsere.
 
Braunschweiger Dom, Krypta. Grablege für Heinrich den Löwen und seine Frau Mathilde - Walter und Johannes Krüger, 1936-38
 

Redaktion: Frank Becker