„Alles ist Geometrie“

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
„Alles ist Geometrie“
 
Von Ernst Peter Fischer
 
     Wenn es erlaubt ist, Rilkes Anmerkung, daß „alle Bilder irgendwie kubistisch“ sind, in einem schlichten Satz zusammenzufassen, dann könnte er lauten: „Alles ist geometrisch darstellbar“, oder noch einfacher: „Alles ist Geometrie.“ Tatsächlich kann man mit diesem Satz, der Picassos Bilder um 1910 erfaßt, zugleich auf knappste Weise zusammenfassen, was Einstein mit Hilfe seiner kosmologischen Theorie erkennt, die er in den Jahren zwischen 1912 und 1915 zum Abschluß bringt. Die drei Worte „alles ist Geometrie“ sind jedenfalls sehr viel näher an Einsteins Leistung als deren Beschreibung durch die Aussage „alles ist relativ“, die ähnlich strukturiert und vielfach zu hören ist, die aber trotzdem leer und nichtssagend bleibt.
     Als Picasso dem Kubismus eine neue Form gibt, weitet Einstein seine zunächst eher bescheidene spezielle Relativitätstheorie von 1905 zu ihrer grandiosen allgemeinen Form aus, in der so manches passiert, gegen das sich der gesunde Menschenverstand vehement wehrt. Doch wenn der common sense Einstein verstehen will, muß er sich daran gewöhnen, daß ihm der Raum nicht so geradlinig und rechtwinklig vor Augen tritt wie ein Renaissancebau oder ein Wolkenkratzer aus der Schule der Bauhausarchitekten. Die Wirklichkeit ist nicht so glatt, wie einem der Rasen in einem Fußballstadion erscheinen mag, solange man ihn nur aus ausreichend großer Distanz sieht. Der Raum ist eher so gekrümmt wie die Oberfläche des Fußballs, mit dem gespielt wird, und das Licht durchquert den Kosmos nicht wie ein Flachschuß, der wie mit einem Lineal gezogen auf das Tor zufliegt. Es bewegt sich eher wie ein Freistoß, der um eine Mauer herumgezirkelt wird, oder wie eine Flanke, die wie eine Bogenlampe den Weg in den Strafraum findet.
     Bleiben wir noch einen Augenblick bei der gekrümmten Oberfläche eines Fußballs oder - besser - eines Globus. Mit ihrer Hilfe läßt sich erläutern, wie aus der Geometrie des Raumes die Dynamik einer Bewegung werden kann. In Einsteins Modell der Welt stellt der Raum unserer Erfahrung die dreidimensionale Oberfläche eines vierdimensionalen Gebildes namens Raumzeit dar. Natürlich überfordert solch eine Wirklichkeit unsere Vorstellungskraft. Aber eine Dimension tiefer kennen wir uns aus, und da stellen wir uns unsere Welt als zweidimensionale Oberfläche einer dreidimensionalen Realität vor. Solch eine Oberfläche kann man sich leicht gekrümmt denken - so wie den erwähnten Globus, mit dem folgendes Gedankenexperiment möglich wird. Jemand begibt sich zum Nordpol und läßt dort zwei Kügelchen loslaufen, die sich zum Südpol hin bewegen. Wenn sie dort zusammentreffen, wird ein Beobachter melden, daß sich die beiden Massen gegenseitig angezogen haben, und er wird damit beginnen, eine Theorie der Gravitation aufzustellen. Doch tatsächlich braucht man die Schwerkraft zur Erklärung der Bewegung nicht. Die beiden Kügelchen sind nämlich aufeinander zugerollt, weil die Krümmung des Raumes ihnen gar keine andere Wahl läßt. Die Geometrie bestimmt, wie sich Körper aufeinander zu bewegen. Sie ist die Ursache der Kraft, die wir spüren und messen können.
     Keine Frage: Von dem gesunden Menschenverstand wird viel verlangt, um so etwas Einfaches wie die Anziehungskraft von Massen zu verstehen. Es muß ihm schwerfallen, dem Raum eine neue (aktive) Rolle zuzugestehen. Er wehrt sich dagegen, wenn Einstein aus einem eher langweiligen und einfach bloß vorhandenen Schuhkarton, in dem wir und unsere Welt Platz finden, ohne sonst etwas mit ihm zu tun zu haben, ein agierendes Gebilde macht, dessen Struktur für die Kraft sorgt, mit der sich zwei Körper anziehen. Der Raum der Relativitätstheorie wird aktiv und aktivierbar zugleich, denn auch umgekehrt sorgen die von ihm umfangenen materiellen Gebilde und deren Energie dafür, daß er überhaupt geformt wird und der Raum entsteht, den wir alle brauchen (und die Demoiselles d'Avignon führen uns diese Dynamik anschaulich vor Augen). Einstein hat diesen merkwürdigen Zusammenhängen eine poetische Form gegeben, als er sich in Gedanken an den Anfang der Zeit zurückbegab und sich bei dem Versuch beobachtete, das Weltall auszumisten. Das klappte jetzt nicht mehr so einfach, wie man sich das vor Einsteins Tagen vorgestellt hat. In seinen Worten, die man sich möglichst oft vor Augen und Ohren führen sollte: „Früher hat man geglaubt, wenn alle Dinge aus der Welt verschwinden, so bleiben nur noch Raum und Zeit übrig. Nach der Relativitätstheorie verschwinden aber Zeit und Raum mit den Dingen.“
     Dieser Satz verdeutlicht, was vor allem wichtig an seinen Relativitätstheorien ist: Die grundlegenden Größen der physikalischen Welt- Raum, Zeit, Materie und Energie - können wir nur verstehen, wenn wir annehmen, daß sie sich alle aufeinander beziehen, daß sie relativ zueinander existieren und vermutlich einmal - am Anfang - eine Einheit gewesen sind.
     Die Zeit gibt es nicht abgelöst von allen Dingen (absolut), sondern nur in Bezug auf eine Uhr und einen Ort, an dem diese sich befindet. Zeit hängt also am Raum, der selbst wiederum nicht unabhängig von der Materie und ihrer Masse ist. Sie ändert die Form des Raumes, was konkret bedeutet, daß der Raum durch Materie so gekrümmt wird wie eine Matratze durch eine Kugel, die man auf sie legt. Massen beeinflussen nicht nur den Raum, sie sind auch in Energie verwandelbar, was man vornehm durch den Hinweis ausdrücken kann, daß Masse und Energie äquivalent sind. Damit haben wir eine Kette von Relationen. Sie beginnt mit der Zeit und geht weiter über den Raum und die Masse bis zur Energie, die damit auch mit der Zeit zusammenhängt. Tatsächlich vergeht die Zeit immer langsamer, wenn man in Bereiche zunehmender Energie vordringt, auch wenn das nur sehr mühsam vorstellbar ist (wenn überhaupt). Zusammenfassend kann man sagen, daß alle Grundgrößen miteinander in Beziehung stehen und also relativ zueinander sind.
     Ist damit alles relativ, wie es immer noch und immer wieder heißt? Nein, die Relativitätstheorie kennt auch absolute Größen und fängt sogar mit ihnen an. Dazu gehört die Geschwindigkeit des Lichts und die Tatsache, daß sie eine rigide Grenze darstellt und sich nichts schneller bewegen kann. Weiter gilt die Bedingung, daß die Naturgesetze unverändert gelten, wenn man den Beobachterstandpunkt wechselt. Also, nicht alles ist relativ, aber „alles ist Geometrie“, und zwar sowohl bei Picassos analytischem Kubismus um 1906, wenn Raum und Körper gleichartig strukturiert werden, als auch bei Einsteins aktivem Raum, wobei die Hervorbringungen der beiden Männer noch eine weitere Gemeinsamkeiten erkennen lassen, nämlich eine Grenze, über die sie nicht hinausgehen:
     So wenig man Picassos Bilder realistisch nennen möchte, völlig abstrakt und ohne Bezug zu Gegenständen malte er nie, und Einstein hielt sich am Ende seiner Karriere lieber fem von der immer abstrakter werdenden Physik der Atome, die er zwar 1905 eingeleitet hat, die er aber nie in ihrer Konsequenz akzeptieren wollte. Wie Picasso der völlig ungegenständlichen Malerei, so hat sich Einstein dem letzten Schritt seiner Wissenschaft verweigert, die nichts Bestimmtes im Bereich der Atome gelten lassen wollte und statt dessen dort nur Unbestimmtheit und Zufall entdeckte, wie uns noch ausführlich beschäftigen wird. „Gott würfelt nicht“ - mit diesen längst berühmten Worten formulierte er seine feste Überzeugung, die sich allerdings ebenso als wirkungslos und isoliert erwiesen hat wie Picassos Abstinenz von der reinen Abstraktion.
 
 
© Ernst Peter Fischer
Aus: „Einstein trifft Picasso und geht mit ihm ins Kino“
2005 Piper Verlag