Die Nahles-Notbremsung nach der Entgleisung

von Ulli Tückmantel

Foto © Anna Schwartz
Die Nahles-Notbremsung
nach der Entgleisung
 
Von Ulli Tückmantel
 
Normalerweise betätigt man eine Notbremse, bevor der Zug entgleist. Bei der SPD ist das offenbar gewohnheitsmäßig anders. 2017 hat sie den „Schulz-Zug“ nicht gestoppt, als er in ungebremster Schußfahrt Richtung Abgrund bretterte. Nun zieht seine Nachfolgerin Andrea Nahles die Reißleine erst, nachdem sie durch Nichtstun den Noch-CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer in der Causa Maaßen bei der Schadensvergrößerung unterstützt hat. Damit hat Nahles das Kunststück vollbracht, die skandalöse Seehofer-Kapriole in eine Frage ihrer persönlichen Zukunft als SPD-Vorsitzende zu verwandeln.
     Der Vorgang, erst stundenlang mit der Kanzlerin und dem Innenminister zu beraten, einer untragbaren Lösung zuzustimmen und nach desaströsen öffentlichen Reaktionen aus der eigenen Partei per Brief ein neues Gespräch zu verlangen, dürfte einmalig in der Geschichte deutscher Regierungsbündnisse sein. Sowie es Angela Merkel nicht gelungen ist, Seehofer unter Kontrolle zu bringen (und das wird ihr auch in ihrer und seiner Rest-Amtszeit nicht gelingen) hat Andrea Nahles den Rückhalt in der eigenen Partei verloren. Ihre Formulierung „wir haben Vertrauen verloren, statt es wiederherzustellen“, ist eine grobe Untertreibung.
     Nahles´ Begründung ihrer verspäteten Notbremsung ist ein unverhohlener Offenbarungseid. Nicht Einsicht, sondern die „durchweg negativen Reaktionen aus der Bevölkerung“ zeigten, „daß wir uns geirrt haben“. So ähnlich hätte das auch der Kapitän der Titanic formulieren können, nachdem das Schiff den Eisberg gerammt hatte. Sicher kann sich Andrea Nahles nur eines Umstands sein: Horst Seehofer wird sich nicht begnügen, grinsend zuzusehen, wie Nahles sich das Hemd in die Hose steckt und heldenhaft auf der SPD-Brücke untergeht. Daß Seehofer prompt erklärt hat, eine erneute Beratung mache dann Sinn, „wenn eine konsensuale Lösung möglich ist“, sollte Nahles so verstehen, wie es gemeint war: als Androhung der nächsten Demütigung.
     Auch der fromme Wunsch der Kanzlerin, über das Wochenende eine Lösung zu finden, ändert nichts daran, daß es nun ausschließlich Horst Seehofer in der Hand hat, ob Nahles in den kommenden 48 Stunden als Partei- und Fraktíonschefin zurücktreten muß und die Große Koalition auch offiziell dort landet, wo sie längst und für jedermann erkennbar angekommen ist: am Ende.
     Alles, was die Koalitionäre noch aneinander bindet, ist ihre Angst vor weiteren Wahlverlusten. Das ist keine Basis, um die Bundesrepublik Deutschland zu regieren. Auf diesem sinkenden Schiff spielt das Bordorchester gerade das letzte Lied.
 
 
Der Kommentar erschien am 22. September 2018 in der Westdeutschen Zeitung.
Übernahme des Textes mit freundlicher Erlaubnis des Autors.