Ein großer poetischer Dialog mit der Poesie

Konstantin Wecker – „ Auf der Suche nach dem Wunderbaren. Poesie ist Widerstand.“ - Ein Essay

von Lothar Bluhm

„Und wenn ich hier über Poesie schreibe,
dann als Poet …“

Konstantin Weckers Suche nach dem Wunderbaren
 
Wer den Namen Konstantin Wecker hört, hat sofort eine Stimme im Ohr, erinnert sich an die eine oder andere Liedzeile, an ein Gesicht aus verschiedenen Fernsehproduktionen, an ein kraftvolles Aufbegehren gegen Stumpfsinn, Geschichtsvergessenheit und politische Verirrungen, gegen Feigheit und unmenschliches Handeln in unserer Welt. Er denkt an den Liedermacher und stimmgewaltigen Sänger, an einen Warner und Kritiker im Schnittfeld von Kultur und Politik. „Konstantin Wecker ist ein Bekenner“, schrieb vor einigen Jahren sehr zu Recht der Schriftsteller Herbert Rosendorfer, „ein Rufer, ein – ja auch, im besten Sinn – Prediger, einer, der uns ins Gewissen redet.“ Und Rosendorfer wusste, wovon er sprach, als er den Vergleich zog: Der biblische ‚Rufer in der Wüste‘ ist ein Mahner, den man zwar hört in seiner Zeit, dem man aber nicht folgt. Gleichwohl beschwört er eine Utopie, die dann für andere Nachfolgende wegweisend werden soll. Rosendorfer sieht nicht nur den Bekenner, er weiß auch: „Konstantin Wecker ist ein Poet“, er ist einer, „der sich sehnt, der träumt, der trauert“. Ein Poet, der von der „Sehnsucht nach einer besseren Welt“ getrieben ist, einer „Welt der Gerechtigkeit“, des „Friedens“ und der „Humanität, der Menschlichkeit“. Das sind große Worte und es sind große Dinge, um die es geht. Man kann sich darüber mokieren und es pathetisch und weltabgewandt, man kann es lächerlich finden oder man kann die Augen öffnen und in seiner Zeit und in seiner Welt die Notwendigkeit erkennen, dem galoppierenden Verlust dieser Werte entgegenzuwirken.
 
Es gibt viele Möglichkeiten, dies zu tun. Eine sehr schöne und schätzenswerte zeigt uns Konstantin Wecker in seinem soeben erschienenen Buch: Auf der Suche nach dem Wunderbaren ist ein großangelegter poetischer Essay mit Gedichten, eigenen wie solchen von anderen, von Rühmkorf, Benn, Härtling, Rilke und Mascha Kaléko. Doch stößt man beim Lesen noch auf viele andere poetische Mitspieler, auf Hermann van Veen etwa, auf die Romantiker oder – ins Mittelalter weisend – auf Meister Eckhart und die Mystik. Wollte man Weckers ‚Suche nach dem Wunderbaren‘ klassifizieren, würde man von einem emphatischen Schreiben sprechen und erinnern an Schreibweisen der ästhetischen Moderne, an Rilke oder Else Lasker-Schüler. Es ist ein autobiographisches Schreiben und Bekenntnisliteratur. Die ‚Suche nach dem Wunderbaren‘ verrät schon in seiner Begrifflichkeit die besondere Nähe zur Romantik und die Bezugnahme auf sie, vor allem auf Novalis und Eichendorff. Erklärtermaßen ist es ‚Widerstandsliteratur‘. Konstantin Wecker spricht von einem „Aufschrei“, einem „anarchische[n] Psalm“, sogar von einem „Pamphlet“. Der Untertitel verrät die zugrundeliegende Überzeugung: „Poesie ist Widerstand“. Denn sie „findet sich nicht ab … mit dem Machbaren“, so wird Max Frisch zitiert, ebenso wie Marcel Reich-Ranicki, für den derjenige, der dichtet, einer ist, der sich „der Willkür und dem Chaos“ widersetzt. Willkür und Chaos zeigen sich für Wecker in der Realitätsenge und Machtversessenheit der gegenwärtigen sozialen und politischen Welt.
 
Vor allem ist die ‚Suche nach dem Wunderbaren‘ ein großer poetischer Dialog mit der Poesie. Dabei ist es gleich, ob man ihn als poetologische Poesie oder poetische Poetologie oder sonst wie bezeichnet. Grundlegend ist der poetische Charakter des Essays und der Textsammlung: „Und wenn ich hier über Poesie schreibe, dann als Poet und nicht als Poetologe.“ Dass der Anspruch dieser Poesie, Widerstand zu sein, Irritationen auslösen kann, vielleicht sogar Entgegensetzung, ist dem Poeten bewusst, denn: „Poesie und Widerstand – auf den ersten Blick passen diese Worte nicht zusammen.“ Die Widerständigkeit von Weckers Poesieverständnis ist das Vermögen der poetischen Sprache, die behauptete Alternativlosigkeit politischer oder sonstiger Deklarationsmacht zu widerlegen und in einer anderen Sprache – eben der poetischen – Freiräume zu schaffen, die neues Denken und neues Handeln ermöglichen. So sieht Wecker seine Poesie – wie auch seine Konzerte – als Streit wider eine „Weltanschauung, die als ewig gefestigt, in Stein gemeißelt und unverrückbar erklärt wird“. Seine Lieder und Gedichte versteht er als Schleudersteine gegen den Goliath einer wirklichkeitsverhafteten Blindheit, der zwar übermächtig erscheint, es tatsächlich aber nicht ist.
 
Weckers verweisungsintensiver Dialog mit der Lyrik schlägt zwei Zirkel, die bereits in der Anlage des Buchs sichtbar werden: Ein erster großer Teil besteht aus poetischen Explikationen, die sich jeweils an Versen und Gedichten entzünden und sie dialogisch weiterführen. Der zweite große Teil bietet – beinahe wie einen Anhang, aber eher doch als eine eigene Sammlung – die Gedichte, auf die sich Weckers poetische Poetologie bezieht. Zusammengestellt sind eigene Gedichte und Lieder, Älteres und Neues, sowie lyrische Programmtexte für Wecker, konkret Rühmkorfs Bleib erschütterbar und widersteh, Benns Wer allein ist, Härtlings Wenn jeder eine Blume pflanzte, Rilkes In meinem wilden Herzen und Mascha Kalékos Memento.
 
Mit Blick auf diese Programmtexte gewinnt der Dialogcharakter im Rahmen der poetischen Explikationen ein eigenes Profil und das Verfahren der produktiven Rezeption, ein wichtiges Moment in Weckers Poetologie, wird greifbar. So ist es bei Rühmkorfs Bleib erschütterbar und widersteh ganz augenfällig der Gedanke der Widerständigkeit, der aufgegriffen wird. „Widerstand ist ein Menschenrecht“, so Wecker im Anschluss an das Gedicht. Der Aufruf wird aufgenommen und in die eigene Biographie gestellt: „Und je älter ich werde / desto sicherer bin ich mir“. In der produktiven Rezeption werden das bei Rühmkorf mitzudenkende, aber nicht ausgesprochene Bewusstsein von der historischen Verantwortung und die intensive Auseinandersetzung einer kritischen Generation nach 1945 mit den Ursachen des geschehenen Kulturverlusts mit all seinen Unmenschlichkeiten explizit gemacht. Immer steht aber die Gegenwart im Blickfeld. Dazu gehört die unheilvolle Tradition eines obrigkeitshörigen Mitläufer- und Duckmäusertums, die in den letzten Jahren so vielfältig wieder in Erscheinung getreten ist: „ja, dass dieses Eichmann’sche Kopfeinziehen / diese ‚Banalität des Bösen‘ / dieses geduckte und stramme / Gehorchen wohl eines der Grundübel / unseres ausschließlich auf Macht basierenden / menschlichen Zusammenlebens ist.“ Dagegen steht der Traum von einer herrschaftsfreien Welt, stehen „herrschaftsfreie Modelle“, wie sie Wecker nicht zuletzt in der Poesie findet: „Poesie lehrt uns, / dass Worte nur Symbole sind.“ Und lehrt in ihrer Auslegungsoffenheit eben auch, „dass man die Interpretationshoheit / nicht den Herrschenden überlassen darf.“
 
Was Wecker in einem poetischen Dialog aufnimmt, führt er jeweils im nächsten fort. So folgt der poetischen Einsicht, dass dem Wort nicht nur Offenheit eigen ist, sondern es sich mit dem Menschen, der es verinnerlicht hat, in der Zeit wandelt, der Blick auf die Unausdeutbarkeit des poetischen Wortes selbst: Die Worte steigen „über uns hinaus / heim ins Absolute“. Die die ‚Suche nach dem Wunderbaren‘ strukturierenden Teile bieten in ihrer Abfolge eine poetische ‚Perlfädelei‘, die einen Gedanken aus dem anderen entwickelt und dabei ein wunderbares Spiel mit Verweisen und Hinweisen bietet: ‚Singen, weil man ein Lied hat‘, ‚Lieber naiv als korrupt‘, ‚Mit dem Herzen denken‘, ‚Der Club der toten Dichter‘, ‚Nein, ich hör nicht auf zu träumen von der herrschaftsfreien Welt‘, ‚Revolution der Zärtlichkeit‘, ‚Gesang statt Zwang‘, ‚Wir sind nicht zu trennen‘, ‚Wenn jeder eine Blume pflanzte …‘, ‚Ohne Berechnung‘, ‚Ich hab ein zärtliches Gefühl‘, ‚Ein Plädoyer für die Ohnmacht‘, ‚Das macht mir Mut‘, ‚Jeder Augenblick ist ewig‘, ‚Es ist ein Lied in allen Dingen‘ – das sind nicht nur anspielungsreiche und manchmal zitathafte Kapiteltitel, sondern Stationen einer Suche nach eben diesem ‚Wunderbaren‘, von dem der Titel spricht. Dass die Suche schließlich in einer Einsicht mündet, die unverkennbar romantisch geprägt ist, und im spielerischen Anklang ein berühmtes Eichendorff-Lied – Wünschelrute – weiterschreibt, verwundert nicht. Während Eichendorff bei aller Nähe zu pantheistischen Vorstellungen jedoch im festen Rahmen einer christlichen Tradition verbleibt, weitet sich Weckers Naturemphase zu einer mystischen Hingabe: „Ein spiritueller Anarchist?“ fragt sich die poetische Stimme so am Ende selbstreflexiv, um dann achselzuckend zu bestätigen: „Na und!“
 
Vielleicht ist der eigentliche Schlüssel zu Weckers poetischer Poetologie deshalb auch im Bekenntnis zur mystischen Vorstellungswelt eines ‚sunder warumbe‘ zu suchen, jene heute noch im Bezug auf Meister Eckhart präsente und im esoterischen Raum verbreitete Vorstellung einer Wahrnehmung, die das rationale Erkennen hinter sich lässt und in der Verschmelzung mit der umgebenden Welt den Weg der inneren Umkehr sucht. Nicht zufällig bietet Wecker in seinem Lied und Gedicht Ohne Warum eine poetische Meditation, die augenfällig mit Versen aus dem Cherubinischen Wandersmann des Barockdichters Angelus Silesius spielt. Weckers „Ist es nicht so, dass die Rose erblüht, / sunder warumbe, ohne Warum, / dass sie nicht fragt danach, ob man sie sieht, / sunder warumbe, ohne Warum …“ verweist augenfällig auf den schlesischen Mystiker des 17. Jahrhunderts:
 
„Die Ros’ ist ohn warumb
sie blühet weil sie blühet
Sie achtt nicht jhrer selbst
fragt nicht ob man sie sihet.“
 
So wie Konstantin Weckers ‚Suche nach dem Wunderbaren‘ mit einer „Erklärung“ bekenntnisliterarisch und autobiographisch einsetzt, was in einem „Zwischenspiel“ im Zentrum der Textdialoge wieder aufgenommen wird, schließt die poetische Poetologie mit einem entsprechenden „Nachwort“. Als Quelle des eigenen poetischen Schaffens wird der Maulbeerbaum vor dem Fenster des eigenen Arbeitszimmers vorgestellt: „Es ist mein Maulbeerbaum, der meine Lieder schreibt.“ Eine schöne Metapher! Vielleicht sogar mehr. Sicher ist aber der Traditionsbezug von Weckers Schreiben – und er wird auch benannt: Als Poet trinkt Wecker, wie er im lyrischen Bild bekennt, aus „einer Quelle, an der Rilke natürlich täglich trinkt und Mozart freudetrunken schon immer badete, meist sogar zusammen mit Puccini“ und vielen anderen Künstlerinnen und Künstler. Daran darf angeknüpft werden: Weckers Poesie ist ein wunderbares Beispiel produktiver Rezeption und poetischer Dialogizität. Er nimmt poetische Texte auf, die bei ihm weiterleben und fortgeschrieben werden. Greifbar wird eine durch und durch moderne Poesie, die zugleich ihre eigene Poetologie vor Augen führt: Literatur ist Literatur aus Literatur. Und sie wird wirksam insbesondere dann, wenn sie authentisch ist.
 
Die einführende „Erklärung“ erklärt doppelsinnig, indem sie die Abschlussverse von Weckers „Erster Elegie“ vorwegnimmt: „Nichts ist erklärbar. / Nur im Unsichtbaren / lernen wir zu sehen.“ Und tatsächlich: Ein Buch wie Konstantin Weckers Auf der Suche nach dem Wunderbaren kann man eigentlich gar nicht erklären. Jedenfalls nicht angemessen. Man muss es lesen.
Lesen Sie es!
 
Lothar Bluhm
 
Konstantin Wecker – „ Auf der Suche nach dem Wunderbaren. Poesie ist Widerstand.“
Mit einem Vorwort von Gerald Hüther.
© 2018 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 144 Seiten, 10,6 x 17,0 cm
€ 15,00
Weitere Informationen: www.randomhouse.de/