Seh-Reise (37)

Siebenunddreißigste Ausfahrt: Gustave Caillebotte

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Frank Becker
Michael Zeller: Seh-Reise (37)
 
Mit Bildern durch das Jahr
 
37. Ausfahrt: Gustave Caillebotte
 
Ein Wunder von Balance
 
Die Grußkarte von Fabrizia, auch dieses Jahr wieder, kam einigermaßen pünktlich. Aus Bergamo. Seit Jahren halten wir es so, daß wir uns gegenseitig an einen bestimmten Tag erinnern, während der gemeinsamen Zeit an einer süddeutschen Universität. Mal schreibt sie, mal ich, es geht immer auf und ist nie abgerissen, in all den vielen Jahre, trotz der verschiedenen Leben, die wir jetzt führen. Doch etwas von damals ist geblieben, hat sich kristallisiert in dieser einen Begegnung:
Der Augenblick Leben, als Fabrizia nach einer Prüfung zu mir gekommen war, in aufgekratzter Stimmung, daß es nun endlich vorüber war. Alles war gut gegangen. Aber in der Euphorie des Erfolges nagte schon das Gefühl von Enttäuschung an ihr. In einem halbstündigen Gespräch war die wochenlange Anstrengung in sich zusammengesunken, banal und lächerlich, im Vergleich zu dem seelischen Aufwand davor, an Einschränkungen, Mühen und Ängsten. Damit auf einem Fetzen Papier mit Stempel das Wort „Bestanden“ stünde. In dieser zwielichtigen Stunde mochte Fabrizia nicht in ihre Studentenbude zurück, in das Chaos von Schriften auf Tisch & Stuhl & Bett & Boden, und sie war bei mir geblieben, zum ersten Mal.
An diesen Tag, der Jahrzehnte zurückliegt, erinnern wir uns also gegenseitig, er ist zum Fixpunkt unserer Beziehung geworden, markant genug immerhin, daß sie bis heute hält, über Hunderte von Kilometern hinweg.


Gustave Caillebotte, Toits sous la neige, 1878

Diesmal also eine Kunstkarte von ihr, mit einem Gruß aus fünf Worten, flüchtig eher als erinnerungsschwer. Nicht der Rede wert. Aber das Bild auf der Rückseite – das hielt mich fest. Ein impressionistisches Gemälde aus dem vorletzten Jahrhundert, datiert 1878. Den Namen des Malers Gustave Caillebotte hatte ich noch nie gehört. Ein Winterbild. Blick über verschneite Dächer, voller Schornsteine. Die Ansicht einer europäischen Großstadt aus fernen Zeiten. Nein! Diesmal sollte Fabrizias Karte nicht im Papierkorb landen. Sie kam ins Wechselrähmchen und würde mich in meiner Küchengalerie durch den Alltag begleiten.
Jetzt, nach einer Woche, weiß ich besser, was mich auf den ersten Blick daran so fesselte. Es ist dieses Raster aus der Weiße des Schnees und dem dunklen Grau der Schornsteine. Zufällig wirkt dieser Ausschnitt (damaliger) Alltäglichkeit, in Wahrheit ist er kunstvoll komponiert. In der Waagerechten von Vorder- und Mittelgrund dominieren die weißen Schneeflächen der Dächer, doch das Stakkato der dichtgestellten Kamine, in verschiedenen Höhen und Distanzen, setzt vertikal eine Dunkeltonigkeit dagegen, aus Grau und Braun. Weder das eine noch das andere behält das letzte Wort. Hell und Dunkel sind wunderbar ausbalanciert, ohne jede Härte. Darüber ein Winterhimmel in lichtem Braun, das sich am Horizont im unabsehbaren Häusergrau einer Großstadt auflöst.
Es ist diese Verdichtung der Großstadtnatur, von Menschenwerk und Witterung, in der die impressionistische Malerei ihre schönste Wirkung zeigt. Der Schwebezustand der Kontraste, im Zwielicht, so wie damals an jenem Vorabend in einer süddeutschen Universitätsstadt. Fabrizia hatte den Ton getroffen. Mit Absicht? Zufällig? Entsprach es eigener Vorliebe, oder kam es aus ihrer gegenwärtigen Stimmung?
Wir sollten wieder einmal telefonieren –
 
Gustave Caillebotte, Dächer mit Schnee, 1878. Öl auf Karton - Sammlung Rau

 

Redaktion: Frank Becker