Das schwarze Loch im öffentlichen Diskurs

Über die mutwillige Mißachtung einer Komponente der Geschichte

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Das schwarze Loch im öffentlichen Diskurs
 
Über die mutwillige Mißachtung einer Komponente der Geschichte
 
Von Ernst Peter Fischer
 
Vor rund vierhundert Jahren hat das stattgefunden, was Historiker die „Geburt der modernen Wissenschaft in Europa“ bezeichnen. Beigetragen hat dazu – neben dem Briten Francis Bacon, dem Deutschen Johannes Kepler und dem Franzosen René Descartes – auch der Italiener Galileo Galilei, über den in den Feuilletons der Zeitungen noch am meisten zu lesen ist. Dabei geht man allerdings sehr viel mehr auf seinen Disput mit der Kirche als auf seine wissenschaftlichen Einsichten ein, zu denen etwa die Forderung der Galilei-Invarianz gehört, die physikalische Gesetze einzuhalten haben. Eine erstaunliche Idee, aber ich bin sicher, daß außerhalb der Physik niemand weiß, was damit gemeint ist. Die Öffentlichkeit interessiert sich zwar für Wissenschaft, wenn man Umfragen von Medienforschern glauben darf, aber daraus folgt nicht, daß sie versteht oder behält, was in ihrem Rahmen mit Bedeutung verhandelt wird. Die Naturwissenschaften gehören eben immer noch nicht zur Bildung, wie es etwa die Kunst und die Geschichte tun, und so kennt sich das Publikum – hoffentlich – beim Kubismus oder mit Reichsgründungen und Bauernkriegen aus, aber wenn jemand Galilei-Invarianz sagt, hört das zustimmende Verständnis auf und das Kopfschütteln beginnt. Das Verstehen hört erst recht auf, wenn der eben erwähnte Begriff der Geschichte über seine politische und militärische Enge hinaus erweitert und die Geschichte der Naturwissenschaften und der dazugehörigen Techniken gemeint oder eingeschlossen wird. Deren historisches Werden ist und bleibt ein schwarzes Loch im öffentlichen Diskurs, und diese durchgehend zu beobachtende Mißachtung beginnt sich in diesen Tagen auf vielen Ebenen zu rächen.
 
Wenn Geschichte die Aufgabe hat, den Menschen die Gegenwart zu erklären, die sie erleben und die in diesen Tagen vor allem durch das Stichwort Digitalisierung charakterisiert werden kann, dann gehören natürlich unter anderem die beiden Weltkriege des letzten Jahrhunderts und das Aufkommen der parlamentarischen Demokratie dazu. Noch viel mehr und erst recht gehören aber auch der Beginn der Industrialisierung, das Aufkommen der Elektrizität und die Einführung von Telegraphen, Telefonen und der Television dazu, um nur ein paar wenige Beispiele zu nennen. Der Laptop, den nahezu jeder heute tagtäglich einschaltet, um in Internet zu surfen, ist keineswegs vom Himmel gefallen, auch wenn gerade von oberster politischer Ebene zu erfahren ist, die Computernutzer betreten damit Neuland. Der Laptop und seine Möglichkeiten stehen am derzeitigen Ende einer langen Entwicklungsreihe, in deren Verlauf Menschen sich erst einmal das Rechnen erleichtern wollten und dann, als die Aufgaben schwieriger und die Lösungen anspruchsvoller wurden, auf den Gedanken kamen, das zu entwickeln, was heute als Software jeder kennt und was man so hinnimmt wie das Aufgehen der Sonne. Doch anders als das Erscheinen des Tages geht das Erscheinen des Computers mit seinen Speicher- und Rechenkapazitäten auf menschlichen Willen zurück, und der hat seit der eingangs erwähnten Geburt der modernen Wissenschaft in Europa dafür gesorgt, daß wir unübersehbar in einer von Wissenschaft und Technik dominierten Welt leben, und die meisten von uns fühlen sich in ihr wohl und gut versorgt. Wir haben sie doch auch gewollt und selbst hergestellt – als Ingenieure und Lehrer, als Konsumenten und Produzenten, als Angestellte und Unternehmer zum Beispiel. Es stimmt einfach und gilt zu akzeptieren, was der französische Philosoph Michel Serres geschrieben hat:
 
„Weder die Wechselfälle der politischen oder militärischen Verhältnisse noch die Ökonomie können – für sich genommen – hinreichend erklären, wie sich unsere heutige Lebensweisen durchgesetzt haben“. Dies kann nur, wer sich nicht nur nebenbei auf die von Menschen gemachte Geschichte der Naturwissenschaften und ihrer Techniken einlässt und das Werden der aktuellen Zivilgesellschaft und ihrer erlebten Wirklichkeit mit Hilfe ihrer Dimension erfasst. Leider wird diese einfach einzusehende Idee hierzulande weitgehend ignoriert und auf keinen Fall ernst genommen. Dabei braucht man sich nur in seinem Alltag umzusehen, um zu merken, wie sehr sie zutrifft und wie hilflos Zeitgenossen wären ohne Radio und Fernsehen, ohne Fernbedienung und Funkuhr, ohne Computer und Handy, ohne Auto und Flugzeug, ohne Kühlschrank und Küchenlicht, ohne Stahl und Styropor und was sie sonst noch alles benutzen, ohne auch nur den geringsten Gedanken an die Herkunft all dieser Annehmlichkeiten zu verschwenden. Damit ist nicht gemeint, die Einzelheiten der Technikgeschichte zu kennen, die etwa von der Dampfmaschine über den Verbrennungsmotor zu der unter anderem mit Tankstellen und Autowerkstätten ausgefüllten Infrastruktur und der Digitalisierung des Lebens geführt haben. Damit ist vielmehr gemeint, dem menschlichen – den humanen – Antrieb nachzudenken, der diese historische Entwicklung erstens überhaupt in Gang gebracht und zweitens bis heute unvermindert fortbesteht und weitere Neuerungen und Verbesserungen hervorbringen wird, auch wenn das individuelle Leben dadurch mehr Komplexität verkraften und sich wieder und wieder anpassen muss.
 
Was gemeinhin die Wirklichkeit genannt wird, lassen Menschen aus den Möglichkeiten entstehen, die ihnen geboten werden. Und es sind vor allem die Naturwissenschaften, die ihnen Möglichkeiten bieten – die Möglichkeit, Energie mit Maschinen in Arbeit zu verwandeln, die Möglichkeit, immer komplizierte Rechenaufgaben erst mechanisch und dann elektronisch bewältigen zu lassen, die Möglichkeit, den Raum und seine Entfernungen bequemer zu überwinden und dies in immer kürzeren Zeiten, die Möglichkeit, Informationen in größer werdenden Mengen und mit zunehmender Verlässlichkeit zu übertragen und zu sammeln, die Möglichkeit, sein Leben durch Vorsorgeuntersuchungen und geeignete Medikamente auf lohnende Weise zu verlängern, und diese Aufzählung ließe sich fortsetzen. Dabei kommt es – wie erwähnt – nicht darauf an, etwa die Abfolge der Ereignisse zu kennen, in deren Verlauf die Dampfmaschine zustande gekommen ist, obwohl sich auch hier spannende Geschichten finden lassen. Es kommt aber darauf an, die Motive zu kennen und einzusehen, mit denen Menschen sich aufgemacht und bemüht haben, nach den erwähnten Möglichkeiten zu suchen, mit denen sie sich zum einen ihre Wünsche und Bedürfnisse erfüllten und mit denen sie zum zweiten dafür sorgten, daß sie sich weniger Sorgen machen und die Bedingungen ihres Existieren erleichtern konnten.
 
Wer heute seine Stimme erhebt, um zum Beispiel die Energieversorgung zu kritisieren oder die Praktiken der Geheimdienste zu beeinflussen, sollte sich an den Hinweis des sozialdemokratischen Bundespräsidenten Gustav Heinemann erinnern, daß derjenige, der mit ausgestrecktem Zeigefinger auf einen seiner Ansicht nach Schuldigen weist, seine Hand dabei so hält, daß drei Finger zurück auf ihn selbst zeigen. Diese drei Finger zeigen an, was der Debatte der Gegenwart fehlt:
 
Zum ersten ein historisches Verständnis der Wissenschaft und ihres Werdens, um überhaupt beurteilen zu können, welche Rolle etwa die Energie in einer Zivilgesellschaft spielt und welchen Preis und welche Anstrengung sie wert sein sollte. Zum zweiten eine breite gebildete Aufmerksamkeit für die Ergebnisse von Wissenschaft und Technik, deren mediale Berichterstattung mehr oder weniger unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet und die zum Beispiel selbst dann keinen Eingang in televisionäre Talkrunden findet, wenn sie die Geschichte des menschlichen Werdens mit Hilfe von Gensequenzen des Neandertalers neu schreibt oder wenn ihr eindrucksvolle Vermessungen des Weltalls – etwa mit dem Hubble Teleskop – gelingen. Und zum dritten ein Verständnis für die intellektuelle Qualität der Naturwissenschaft, die weder „mindere Wahrheiten“ produzieren, wie der im kultivierten Feuilleton geschätzte Komparatist George Steiner schreibt, noch einen „Kampf gegen die Natur“ führen, wie ein aktueller Buchtitel behauptet, und erst recht nicht die Welt „entzaubern“, wie seit den Tagen von Max Weber und Theodor Adorno auch von denen nachgebetet wird, die kein einziges Naturgesetz nennen können und mit Sicherheit vor dessen Galilei-Invarianz stehen wie der Ochse vor der frisch gestrichenen Stalltür.
 
So bedauerlich es ist, aber die Naturwissenschaften und ihre Rolle für das Leben der Menschen erscheinen im öffentlichen Diskurs wie ein schwarzes Loch am Himmel, wobei vermutlich zwar jeder Leser einer Tageszeitung schon einmal von solch einem Gebilde gehört oder gelesen hat, ich aber immer noch jemanden außerhalb der physikalischen Institute suche, der dazu ebenso viel sagen kann wie etwa über die Krise beim Euro oder die jeweils aktuellen Beschuldigungen gegen Alice Schwarzer oder andere Prominente.
 
Das Verständnis für Wissenschaft als schwarzes Loch ist so wörtlich gemeint, wie es klingt. Denn zu dem so bezeichneten Endzustand von Materie gehört ein Ereignishorizont, bis zu dem man sich ihm bestenfalls nähern kann. Erst dahinter spürt man die Sogwirkung der geballten und implodierten Materiemenge, die zu schwarze Löchern führen können. Wer über sie redet, steht außerhalb dieses Ereignishorizonts. Und was die Wissenschaft angeht, so steht das Publikum ebenfalls noch außerhalb der eben genannten Grenze. Es spürt die Anziehungskraft der Wissenschaft nicht. Noch nicht. Aber alles führt zu ihr hin, wie Tag für Tag unübersehbarer wird. Zum Glück haben Menschen sich noch nie durch Grenzen aufhalten lassen. Im Gegenteil! Wir bilden die biologische Spezies, deren Mitglieder erst Grenzen erkennen und dann überwinden oder zumindest überwinden wollen. Dieser Schritt lohnt vor allem, wenn es um die Zukunft geht. Den Mut, ihn zu unternehmen, haben die Europäer seit vielen hundert Jahren erbracht und beibehalten. Man kann darin eine praktische Form von Galilei-Invarianz erblicken. Wer sie versteht, will hoffentlich mehr von der gesamten Idee wissen. Das schwarze Loch würde strahlen.