Für einen Dollar

von Peter Hohberger


Für einen Dollar
 
Niemand müßte hier hungern, da man sich z. B. schon für einen Dollar ein Brot kaufen könnte, wenn man eben diesen Dollar hätte. Für einen Dollar könnte man sich auch bei dem Händler, der einen Tisch voller Bücher auf dem Trottoir stehen hat, eines der Bücher kaufen. Du gibst dem Mann einen Dollar und kannst dir dafür ein Buch aussuchen. Für einen Dollar hast du dann ein Brot oder ein Buch. Für einen Dollar brauchst du nicht zu hungern, oder wenn dir nach Lesen zumute ist, verzichtest du auf das Brot und kaufst dir stattdessen ein Buch. Nur ein Dach über dem Kopf mit einem Bett und einem Stuhl und einem Tisch kriegst du nicht für einen Dollar. Oder vielleicht doch. Ich konnte das aber nicht herausfinden.
 
Man sagte mir aber, man könne auch ohne zu zahlen irgendwo einziehen, es gäbe da Häuser am Rande der Stadt, da verlangt keiner mehr Miete von dir, wenn du dort wohnst. Dort kannst du dann dein Brot essen oder dein Buch lesen und hast dabei ein Dach über dem Kopf, und es kostet dich gar nichts, wenn es stimmt, was man mir erzählt hat. Allerdings wird von Zeit zu Zeit so ein Haus gesprengt, weil es baufällig geworden ist und damit die, die dort ihr Brot essen oder ihr Buch lesen, nicht gefährdet werden. Besser und ungefährlicher ist es dann doch für sie, mit einem Pappschild, auf dem „homeless und hungry“ steht, auf dem Trottoir zu sitzen, da kann ihnen wenigstens nicht die Bude über dem Kopf zusammenbrechen, sollte man aus irgendeinem Grund den Zeitpunkt versäumt haben, das Haus rechtzeitig in die Luft zu jagen.
 
Ich war weiter auf der Suche in dieser Stadt, was man für einen Dollar kriegen könnte. Ich fand dann tatsächlich was: Eine Postkarte mit einem Filmstar darauf, der mich mit seelenvollen Augen anblickte. Eine schöne Frau, die ich aus einigen Filmen kannte und die mich besonders in einem Film schon schwer mitgenommen hatte, der sich auf moderne Art am Orpheus-Mythos orientierte. Der Liebende verliert die Geliebte, weil er es nicht lassen kann, sich nach ihr umzusehen oder, wie im Film, hinter ihre Vergangenheit, die kriminell war, zu kommen. Naja, das führt jetzt zu weit. Jedenfalls auf der Postkarte war dieser Filmstar abgebildet, seelenvoll weich blickend und ganz von Rosa umflossen. ich kaufte die Postkarte, sie schien mir mit einem Dollar zwar stark überbezahlt, doch ich hatte eine gefühlsmäßige Bindung an diesen Star, und so legte ich einen Dollar dafür hin und mußte nun erfahren, daß diese Karte für einen Dollar doch nicht zu haben war, denn es kam noch irgendeine Steuer darauf. Das hatte man aber bei der Ein-Dollar-Preisangabe verschwiegen. Ich ärgerte mich, denn ich war ja auf der Suche nach etwas, das nur einen Dollar kostet. Also die süßliche rosa Postkarte mit dem weich blickenden Filmstar hätte ich mir, wenn ich nur einen Dollar zur Verfügung gehabt hätte, nicht leisten können.
 
Für einen von denen, der mit seinem Pappschild „homeless and hungry“ auf dem Trottoir sitzt, wäre die Wahl sicher nicht schwer gewesen, wenn er eben diesen einen Dollar gehabt hätte. Sicher hätte er sich für das Brot entschieden, vielleicht wäre ihm die Wahl zwischen einem Buch und der rosa umflossenen Filmschönen schwerer gefallen, denn man konnte schon Appetit bekommen, so schön leuchtend rosa war diese Karte. Es drängte sich geradezu die Erinnerung an süße Speisen auf oder auch an ein Stück Fleisch. Nicht gerade das Fleisch des Filmstars, der war zu weit weg, der war zu unerreichbar, nein, an ein Stück Fleisch auf einem Teller, nicht durchgebraten, sondern halbroh, so wie es die richtigen Kenner schätzen, die du hier überall in Restaurants sitzen siehst, wie sie bedächtig mit ihrem Besteck auf ihren Tellern hantieren, geübt und sorgfältig wie Chirurgen beim Operieren. Das mußt du gesehen haben, wie so ein Feinschmecker und Kulturfreak an sein Essen rangeht, und wie er sein Glas hebt und den Wein darin kurz anblickt, und dann einen kleinen Schluck davon im Mund herumwälzt, während der Kellner mit der Flasche respektvoll wartet, und wie er dann nach der Verkostung dem Kellner zustimmend zunickt und der dann das Glas mit einem Lächeln füllt, nein, nicht füllt, sondern nur knapp halbvoll gießt mit einem Lächeln, das dem Kenner, den er bedient, zeigt, daß er nichts anderes erwartet hat als dessen huldvolle Zustimmung. Das mußt du wirklich gesehen haben, was einer alles zu beachten hat, wenn es ums Essen und Trinken geht. Da kannst du dich nicht einfach hinsetzen und reinhauen, was man dir hinstellt und ohne anerkennende Miene deinen Wein runtersaufen. Nein, so geht das nicht, da wäre man untendurch. Auf so einen legt man in so einem Etablissement keinen Wert, außer er ist einer der großen Dollarsammler, der ein Trinkgeld gibt, von dem allein der, der draußen auf dem Trottoir mit seinem Pappschild sitzt, ein oder sogar zwei Monate lang jeden Tag einen Dollar ausgeben könnte. Der aber, der in einer der eleganten Lokalitäten sitzt, der muß eine Menge Dollarscheine hinlegen, wenn er hier essen und trinken will. Meist ist er nicht allein sondern in Begleitung einer geschmückten Dame, für die ringsum die Welt Luft ist.
 
Allein hätte ich mich allerdings in solche Restaurants nicht hinein gewagt, ich wurde aber ein paarmal von guten Bekannten eingeladen, die mir zeigen wollten, was wahre Lebensart ist. Mir war das immer etwas peinlich. Zugegeben, das Essen war gut, und der Wein, das versicherte man mir, wäre ausgezeichnet. Nur ich meinte zu spüren, daß ich für die Kellner hier nicht hingehörte. Jedenfalls hatte ich da die Gelegenheit zu sehen, wie schwierig es für meine Gastgeber war, ihren Hunger und Durst zu stillen. Sie studierten mit konzentrierter Miene die Karte, sie zögerten und verwarfen, man wurde ganz kribbelig dabei und wollte helfen. Doch das sollte man lieber bleiben lassen, denn dieses ganze Überlegen, Abwägen und Beratschlagen war es ja gerade, was den Herrn von Welt auszeichnet.
 
Aber ich wollte von denen erzählen, die ich auf der Straße mit ihrem Pappschild „homeless and hungry“. sitzen gesehen habe.
Gestern habe ich einen gesehen, der mir Eindruck gemacht hat. Es war schon Abend, und es war ziemlich kalt. Und an der Ecke, an der er saß, wehte es ungemütlich. Er saß da mit seinem Pappschild, und er sah so dunkel aus wie die Nacht, die den Abend gerade im Begriff war abzulösen. Er war kein Farbiger, aber er sah dunkel aus, beinahe schwarz. Dort wo er saß, kam wenig Licht von der Straße hin, denn vor ihm, dicht vor ihm, stand jemand. Da stand eine Frau, die sich mit einer anderen Frau und einem Mann unterhielt. „Homeless and hungry“ saß da und rührte sich nicht, ich muß sagen, er hatte verflucht viel Takt. Er saß da und blickte zu Boden, so als müßte er sich schämen und nicht die Frau, die ihm beinahe auf die Füße trat. Sie verstellte ihm die Aussicht, und sie verstellte auch die Sicht auf ihn, so daß keiner sein Schild lesen konnte und ihm einen Quarter hinwerfen konnte und er sagen konnte „Thank you“ und „have a nice day“ oder „time“, denn es warja schon Nacht. Nein, das ging nicht, weil eben diese Frau dicht vor ihm stand und sich mit einer anderen Frau und einem Mann unterhielt. Wahrscheinlich beratschlagten sie, wohin man gehen könnte, um auf ihre kultivierte und schwierige Art ihr Abendessen einzunehmen. Diese drei, die so nahe vor dem Dunklen standen, daß man fürchten mußte, sie treten gleich auf ihn und sich unterhielten, so als säße da keiner, sahen genau so aus wie die, die ich hinter den Scheiben der noblen Restaurants gesehen habe, wie sie in schön beleuchteten Räumen an ihren Tischen saßen, während Kellner dezent hin und her schritten.
 
Es war, wie gesagt, kalt, doch das störte den Herrn und die beiden Damen nicht. Die beiden Damen trugen kostbare weichfallende Pelzmäntel, und der Saum des Mantels der einen Dame steifte den Kopf des am Boden Sitzenden, der weiter ganz unbeweglich seinen Kopf gesenkt hielt, so als wäre er nicht da und hörte nicht, was die drei Leute dicht vor ihm besprachen. Er hörte einfach vornehm vorbei. Er hatte verdammt viel Takt. Nach einer Weile wurde ein Taxi herbeigewinkt, und weg waren sie. ich hätte zu gerne rausgekriegt, ob sie den still Dasitzenden, der so taktvoll abwesend tat, überhaupt bemerkt hatten. ich glaube, als sie weg waren, atmete „homeless and hungry“ auf, doch das merkte man nicht, er blieb weiter unbeweglich still sitzen und wartete darauf, daß er leise „thank you“ und „have a nice day“ sagen konnte, wenn ihm jemand etwas hinlegte. Nicht einfach hinwarf, nein, sich dabei sogar ein wenig bückte, denn die, die etwas gaben, hatten auch Taktgefühl. Ich hoffe, er hat seinen täglichen Dollar zusammengebracht, um sich dann ein Brot zu kaufen, was ja in dieser Stadt schon etwas heißen will: Ein Brot für einen Dollar. Ein Dollar, das ist nichts in dieser Stadt, wo eine Stunde Parkzeit in einer Garage schon 12 Dollar kostet. Doch man bekommt tatsächlich für einen Dollar ein Brot.
 
Was es dagegen kostet, eine Wohnung in einem dieser bis hinauf in den Himmel reichenden Wohn- und Bürotürme zu mieten, das erfuhr ich später. Ich hatte mir ja nicht einmal vorstellen können, daß hinter diesen Fensterwänden, dieser Unzahl von Fenstern, mit denen die Wände dieser Türme regelrecht gepflastert sind, eine ähnliche Unzahl von Räumen sein könnte - und sogar ganze Wohnungen. Doch die gab es tatsächlich, denn einmal war ich in eine dieser Wohnungen hoch oben hinter einem der unzähligen Fenster eingeladen. Einfach da hineinspazieren konnte man allerdings nicht. Unten in der Halle paßte ein uniformierter Wächter auf, und der Besuch mußte angemeldet werden. Der Wächter telefonierte nach oben, und man durfte dann passieren. Ich erfuhr, daß die Wohnung, die schön war aber nicht sehr groß, 4.000 $ im Monat kostet. Und das wäre noch günstig!
 
Als ich das hörte, bekam ich es mit der Angst, denn wenn ich durch irgendeinen Umstand gezwungen wäre, in dieser Stadt zu bleiben, hätte ich auch sehr schnell einen Plastikbecher in der Hand und suchte ebenfalls in den Geldrückgabeschalen der öffentlichen Telefone nach Münzen und säße ebenfalls sehr schnell mit einem Pappschild auf dem Trottoir. Mit einem Dollar pro Tag, brächte ich ihn zusammen, könnte ich zwei Tage ohne zu hungern überstehen. Das Verrückte aber ist, die Dollars sind rar, weil alle hinter ihnen her sind. Es gibt einfach zu wenig davon, weil die Dollarsammler sie nicht wieder rausrücken. Das ist wie eine Krankheit, je mehr einer von den grünen Scheinen hat, je schwieriger wird es, ihn dazu zu kriegen, sie freiwillig wieder herzugeben. Der Dollar hat für viele Sammlerwert, und gerade der, der schon eine ordentliche Menge angehäuft hat, trennt sich am schwersten davon. Von den Großsammlern will ich gar nicht reden. Am leichtesten kriegt man einen Dollar noch von denen, für die es hoffnungslos ist, eine ordentliche Sammlung davon anzulegen. Erstaunlich allerdings ist, daß so ein Dollarsammler machmal doch davon was springen läßt, z. B. - ich komme schon wieder auf die feinen Restaurants zu sprechen - wenn er in so einem Restaurant diniert. Da legt er gern was auf den Tisch, auch wenn das, was er für seine Dollarscheine bekommt, lächerlich ist. Da werden ihm, sagen wir mal, zwei Salatblätter auf einem Teller bedeutungsvoll serviert, die dekorativ eine kleine Raffinesse schmücken. Vom Gegenwert für die irgendwo hart erarbeiteten Dollars, die auf irgendwelchen Wegen in den Besitz des Sammlers übergegangen waren, kann keine Rede sein. Doch der Sammler weiß, diese Salatblätter kann sich nicht jeder leisten, und das hebt sein Selbstwertgefühl. Dafür rückt er etwas von seiner Sammlung raus. Außerdem haben die Dollars der Großsammler die angenehme Eigenschaft, sich von selbst zu vermehren. Man braucht dafür nicht zu schuften, die werden einfach von selber mehr. Besser kann's einer gar nicht treffen. So ein Großdollarsammler kann natürlich noch ganz andere Sachen machen, er kann einen der Büro- oder Wohntürme bauen lassen. Da gibt es einen dieser Türme, der den Namen dessen trägt, der ihn hat erbauen lassen. Als ich die beeindruckende Empfangshalle dieses Towers betrat, denn das durfte man, sah ich eine Menge Gold blitzen und hochpolierten rosa Marmor schimmern, und es drängte sich mir auf, daß ich hier gerade die beiden großen Beweger sah: Gold und Fleisch. Da war sie wieder, die rosa Farbe meiner Postkarte, hier in dieser luxuriösen Halle, hier ins Gigantische gesteigert. Man wurde regelrecht geblendet vom Glanz der beiden großen Wunscherreger, nur das Dollargrün fehlte in der Prachthalle, die von dunkel gekleideten, stabil aussehenden Wächtern geschützt wurde, die sich dort etwas gelangweilt aufhielten. Das Dollargrün aber ist die wahre Macht, ich verstehe nicht, daß noch kein Modeschöpfer auf die ldee gekommen ist, seine Kreationen in Dollargrün der Welt vorzuführen. Vielleicht ist diese Farbe aber nur für die Uniformierten reserviert, die für den Schutz der Nation zuständig sind. Die großen Dollarsammler aber und auch die Dollarverwalter treten jedoch nicht in diesem Grün auf, sie sind meist bis auf einige Exaltierte elegant und dezent gekleidet, oft in schlichtem Schwarz. Kein Stäubchen ist auf ihren makellos glänzenden Schuhen, und genau so glänzend und makellos sind ihre Limousinen, die von Chauffeuren bewacht auf sie warten. Die Chauffeure langweilen sich natürlich bei der ewigen Warterei, und ich habe gesehen, wie sie, um sich die Zeit zu vertreiben, Karten spielen. Dabei schützen sie den Lack der jeweiligen Limousine, indem sie ein weiches Tuch über die Stelle breiten, auf der sie ihre Karten ablegen. Auch das hat mich beeindruckt.
 
Übrigens bekommen die Großsammler und die Großdollarbesitzer das Grün des Dollars kaum zu sehen, dieses Grün ist in Zahlenkolonnen versteckt und in Plastikkärtchen, mit denen man bezahlen kann. Sobald man aber Sehnsucht nach dem Dollargrün hat, kann man diese Sehnsucht mit Hilfe der Kärtchen stillen. Und man könnte sich sofort ein Brot kaufen oder ein Buch, sollte ein Kärtchenbesitzer auf so eine abenteuerliche Idee kommen. Die aber, die solche Kärtchen nicht besitzen, die müssen sehen, wie sie einen Dollar mit ihrem Pappschild und ihrem Plastikbecher zusammenkriegen. Meist sind es ja nur Münzen, die sie bekommen, aber sie können, wenn ihnen der Sinn danach steht, diese Münzen in so einen grünen Schein umtauschen, um sich an seinem Anblick zu erfreuen. Oder sie legen alle zusammen und kaufen sich statt Broten und Büchern ein Gewehr; ich meine nicht, um damit Revolution zu machen, denn das geht meist schief- eigentlich immer. Sondern man kann sich damit auch aus einer Welt hinausschießen, die einem unerträglich geworden ist.
 
Das alles sah ich 1988 in New York. Gibt es heute noch die „hungry and homeless“- Leute dort? In der Zwischenzeit hat Amerika einen dunkelhäutigen Präsidenten gehabt, der den Hoffnungsslogan „Yes, we can!“ wie eine Gebetsformel verkündete. Dieses „Yes, we can!“, immer wiederholt wie der Refrain eines Schlagers, hat eine fatale Ähnlichkeit mit einer anderen Beruhigungsformel: „Wir schaffen das!“
 
Nun, der nette sympathische farbige Präsident schaffte es nicht, wie wir wissen. Heute haben sie dort einen anderen Präsidenten, einen großen blonden mit einer überlangen Krawatte, die wie eine rote lange Zunge an ihm herunterhängt, ein ganzes Stück über seinen Hosenbund hinaus. Alles an diesem Mann hat irgendwie Übergröße. Dem selben Mann gehört übrigens auch der Tower, der mir damals großen Eindruck gemacht hatte mit all dem Gold und Marmor. Dieser Mann mit der überlangen Krawatte soll immens reich sein, und sollte es die „homeless and hungry“- Leute noch immer geben, so könnte er ohne weiteres eine Stiftung ins Leben rufen, die diesen Leuten täglich einen Dollar zukommen läßt, damit sie sich ihr tägliches Brot kaufen können. Aber vielleicht bekommt man heute kein Brot mehr für einen Dollar.
 
Außerdem wird es diese 1-Dollar-Stiftung wohl nie geben, weil der Mann mit der Krawatte für Verlierer nicht viel übrig hat.
 
 
© Peter Hohberger 2018