Seh-Reise (34)

Vierunddreißigste Ausfahrt: Giovanni Battista Tiepolo

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Frank Becker
Michael Zeller: Seh-Reise (34)
 
Mit Bildern durch das Jahr
 
34. Ausfahrt: Giovanni Battista Tiepolo

Würzburg ist es gewesen. Hier sind mir die Augen aufgegangen. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich dort erfahren, daß eine Stadt ein Kunstwerk ist. Daß man sich in ihr bewegen kann wie in einem Museum, einem Schloß, einer Kirche, in die man als Kind von den Erwachsenen geschickt wird, aus wenig einsehbaren Gründen. Ganz ohne Absichten, ohne irgendeine Prämie zu erwarten, fiel es mir vor die Füße.
Siebzehn Jahre war ich alt und wollte mehr über meinen Vater wissen, der im Zweiten Weltkrieg verschollen ist. Genaueres, als meine Mutter es mir erzählen konnte. Vor allem: Ich wollte etwas sehen. Das wenige, was mir von ihm bekannt war: Er hatte Ende der zwanziger Jahren in Würzburg studiert. Da Vaters Studienort von unserem damaligen Wohnsitz Frankfurt in gut erreichbarer Fahrradnähe lag, habe ich in irgendwelchen Herbstferien die Taschen gepackt und mich aufgemacht. Natürlich allein. Bei dieser Mission konnte ich niemanden sonst brauchen.
Von Vater fand ich so gut wie nichts mehr vor. In einer einzigen Nacht kurz vor Ende des Kriegs ist die gesamte Innenstadt Würzburgs ausgeglüht. Es blieben Ruinen nur und Asche, darunter auch Vaters Universität. Wo er sich sonst noch herumgetrieben haben mochte – dazu wußte ich zu wenig von ihm. Und doch war ich nicht enttäuscht. Ich war überwältigt von den Kirchen und Palästen hier, die auf engstem Raum sich drängten (daß sie nagelneu nachgebaut waren, erkannte ich nicht). Ein Hauch von Vater immerhin schwebte durch die Straßen, die ich ging. Das reichte mir. So nah wie hier waren wir uns noch nie gekommen.
Auf meiner ziellos gewordenen Suche fand ich auch in die Residenz (für zwanzig Pfennig), und der Siebzehnjährige hatte das Glück, dort Kunstwerke zu entdecken, die zum schönsten zählen, was europäische Kultur im achtzehnten Jahrhundert hervorgebracht hat. Damals war meine Bewunderung maßlos, bei den späteren Besuchen nicht mehr. Kleiner geworden ist sie darum nicht.
Allein das Treppenhaus der Würzburger Residenz, das der Architekturanfänger Balthasar Neumann als seinen ersten Bau in die Lüfte getrieben hat, und das Fresko in seiner Kuppel, mit den zwanzig mal dreißig Metern Fläche immer noch eines der größten zusammenhängenden Gemälde auf der Welt - wie soll ein Betrachter dieses riesige Gemälde je fassen, wenn er mit weit in den Nacken gelegtem Kopf unseren ganzen Erdkreis darin ausgebreitet sieht? Alle vier Kontinente mit Land und Leuten, Mann und Maus, Tieren, Früchten, Gebäuden, Landschaft. Sei man Siebzehn oder Siebzig – wie kriegt man unter diesem erdumspannenden Fresko des Giovanni Battista Tiepolo aus Venedig den Mund wieder zu? Was wäre auch zu sagen? Ein Stammeln allenfalls der Überwältigung.


Freude des Wiedersehens nach einem halben Jahrhundert, Freude, jetzt mit dieser Kunstkarte in meiner Küche eine Woche zu verbringen, von einem der letzten Besuche mitgebracht (so schöne Karten wurden in den Sechziger Jahren dort noch nicht angeboten). Ein lächerlich kleiner Ausschnitt aus dem gewaltigen Deckenfresko, auf Postkartenformat geschrumpft.
Afrika! Dicht drängt sich das Leben der Menschen des sogenannten Schwarzen Kontinents, in barocker Opernseligkeit ausgebreitet. Die schwarze Frau, in gleißend weißes Tuch gehüllt, der Busen bloß - in göttlicher Nacktheit sitzt sie, eine Königin der Sinnlichkeit, auf einem Gebirge von Kamel, umdrängt von Männern, Frauen, verschleiert oder nicht, wie sie Gerätschaften herbeischleppen von geheimnisvoll fremder Art: Der Lederköcher voller Pfeile auf dem Rücken des verehrend Hingeknieten, der Weihrauch räuchert, wie wir das von den drei Königen aus dem Morgenland kennen. Zwei Stoßzähne des Elefanten, das damals in Europa so begehrte Elfenbein, aus dem sich die zierlichen Kunstwerke schnitzen ließen, für Könige und Bischöfe. Alte Schriften in einem Ranzen – welche uns verschlossenen Weisheiten mögen darin verborgen sein? Über dem Zelt im Hintergrund, zum Schutz vor Sonne und Sand, spannt sich ein Himmel von diffusem hellem Braun, in dem Vögel kreisen – Vorboten eines Sandsturms, aus den Tiefen von Wüsten?
 
Immer wieder mußte ich mich fragen während der Woche, ob wir Vielgereisten, denen jeden Tag die Bilder dieser Welt frei Haus geliefert werden – ob wir Heutigen so viel mehr wissen von Afrika als dieser Maler vor über zweihundertfünfzig Jahren. Auch der eurozentrische Blick Tiepolos, sicher vorgegeben von seinem fürstbischöflichen Auftraggeber (Europa selbst fehlt unter den Kontinenten als Panoptikum der Welt) – haben wir Heutigen wirklich eine größere Weite des Blicks gewonnen?
In diese Welt aus Phantasie und Farbe war ich damals, vor fünfzig Jahren, hineingeraten auf der Suche nach dem ungekannten Vater, und er hatte sich ein Stück weit darin aufgelöst. Doch der Krieg, die Welt der Väter, läßt niemals los.
Erst viele Jahre nach meiner jugendlichen Fahrradtour erfuhr ich, auf welch wunderbare Weise das Fresko des Giovanni Battista Tiepolo die Bombennacht des 16.März 1945 überstanden hat. Natürlich war auch die Residenz schwer getroffen und brannte. Die Balken des Daches krachten auf die flache Tonne, die inwendig Tiepolos weltumspannendes Fresko trug. Noch hielt die Statik der Barockzeit stand. Wie lange wohl? Der erste Regen wäre das Ende gewesen von Afrika und dem Rest der Welt. Vierzehn Tage nach dem Angriff der Engländer zogen amerikanische Truppen in das Ruinengelände ein, das einmal die Stadt Würzburg gewesen war. Unter ihnen Major Skilton, ein studierter Kunsthistoriker, der das Hauptwerk Tiepolos kannte und sich umgehend auf die Suche danach machte. Gleich ließ er Zeltplanen über die Tonne ziehen, die frei unter dem Himmel lag und in wenigen Tagen in sich zusammengebrochen wäre, mitsamt all der Farben und Formen des Barockmalers aus Venedig.
Wir Menschen sind schon staunenswerte Wesen – in alle Richtungen.
 
Giovanni Battista Tiepolo, Afrika, 1753. Fresko im Treppenhaus der Erzbischöflichen Residenz, Würzburg
 

 

Redaktion: Frank Becker