Der alte Mann 13

(...und der Stein im Schuh)

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker
Der alte Mann
und der Stein im Schuh
 
Der alte Mann ging mit seinem Hund spazieren. Er hatte keine Freude an seinem Gang, zumal ihm ein Stein im Schuh das Leben schwer machte. „So ein kleiner Stein“, dachte er, „aber was für eine Wirkung.“ Der alte Mann stöhnte laut auf. Er war es leid zu überlegen, warum sich gerade auf seinen Wegen immer Steine breit machen mußten. „Passiert nur mir das?“, dachte er. „Warum verschweigen alle dieses Mißgeschick? War der Stein im Schuh ein Tabu?“ Es war der Tag nach Ostern, als sie auf den Monte Scherbelino ankamen. Obwohl ein Nieselregen den Geruch milderte, roch es überall noch nach dem Osterfeuer. Er quälte sich die Stufen zum Grillplatz hoch, der bei den Sportanlagen zu finden war. „Ich sollte den Stein aus meinem Schuh schütteln“, dachte er, „aber dann müßte ich den Schuh ausziehen, danach wieder anziehen und dabei noch dem Hund erklären, daß wir eine Pause einlegen.“ Da sie an dieser Stelle nie rasteten, wäre der Hund total überfordert über diesen Zwischenstop. Wahrscheinlich würde er sich sogar weigern zu warten und aufgeregt die Ordnung der Welt einfordern. Das Osterfeuer war heruntergebrannt, nur kleine Flammen flackerten trotz des Regens aus der Asche. Der Wind dröhnte in seinen Ohren und Rauchfahnen versperrten ihm die Sicht. Ihn wurmte der Stein im Schuh. Er wußte, wenn ein Fuß nach vorne abrollte, bog sich der Schuh und das Leder öffnet sich zu einem Spalt. Natürlich sprang dort alles rein, was ein steter Schritt aufwirbelte.
„So schleicht sich der Mistkerl in mein Leben“, grummelte der alte Mann. Sollte er seinen Gang verändern, nur noch Wiesen durchstiefeln oder einfach zu Hause bleiben? Warum gab es überhaupt noch Steine? Der Jäger aus dem Märchen füllte sie schon lange nicht mehr in den Bauch des bösen Wolfs. Sisyphus schob auch keinen Felsbrocken mehr den Berg hinauf und Weintrauben wurden inzwischen ohne Kerne angeboten. Warum fegte also niemand die Steinchen aus dem Weg? Hatte da Carglass seine Hände im Spiel? „O heiliger Liborius“, betete er, „Paderborner Schutzpatron gegen alle Steinleiden, hilf mir und befreie mich von dieser Heimsuchung.“ Früher hatte er nie Steine im Schuh gehabt. Damals ging er auf und ab und nichts hatte sein Abrollen gestört. Lag es daran, daß er seinerzeit Sandalen trug und Steine mehr Ausweichmöglichkeiten fanden? „Wenn ich alle Steine aus meinen Schuhen gesammelt hätte, könnte man damit die chinesische Mauer nachbauen“, klagte der alte Mann. Er hob ein Bein und hielt sich an einer Laterne fest. Es sah aus, als wollte er seinem Hund in allem ein Vorbild sein. Umständlich zog er seinen linken Schuh aus und hüpfte hilflos auf einem Bein herum. Wo war sein Hund? „O wie schwer das Leben zu ertragen ist“, dachte er. „Das hört nie auf. Immer gibt es was zu tun, um ein bißchen Ordnung zu haben.“
„Reg dich nicht so auf“, hatte seine Frau immer gesagt, aber er regte sich halt auf. Der alte Mann war auf einmal müde. Er zweifelte an Glück und Liebe. Wie würde es sein, wenn er die flauschigen Wolken und die blühenden Bäume sehen würde und hätte keine Freude mehr daran? Nicht auszudenken, daß ihn alles kalt lassen könnte. „Wie würde es sein, wenn mein Hund mir keine Freude mehr machen würde?“, dachte er. „Wie würde es sein, wenn ich keine Freude mehr an der Welt hätte“, dachte er. „Wenn ich keine Freude mehr an meinen Freunden hätte und das Lachen der Kinder mir zu laut wäre?“
Er war überrascht, was so ein Stein im Schuh für Zweifel auslösen konnte. Wahrscheinlich war dem Stein gar nicht bewußt, daß er der Tropfen war, der ein Faß zum Überlaufen bringen konnte. „Mir ging es auch schon mal besser“, dachte der alte Mann. Da erschien ihm ein Trost. Es war eine Mutter, die ihren kleinen Sohn an sich drückte, weil dessen Luftballon weggeflogen war. Ein blauer Ballon zog nach Westen und ließ sich vom Winde fortführen. Der kleine Junge sah ihm nach und weinte bitterlich. „Das geht vorbei“, sagte die Mutter. „Das geht vorbei.“ Der alte Mann nickte. Es ging ihm besser. Ein Stein fiel ihm vom Herzen. Frohgemut wollte er weitergehen, als ihn ein Schmerz an sein Schicksal erinnerte.
„Das gibt es doch nicht“, murmelte er. Da hatte sich, haste nicht gesehn, wieder ein Stein klammheimlich in seinen Schuh verirrt. Konnte es der Stein gewesen sein, der ihm vom Herzen gefallen war? Egal, viele fahren extra in einen Kurpark und stolzieren freiwillig über die Steine eines Fußlehrpfads. Das konnte er umgehen. Er konnte normale Gänge verbinden mit der stetigen Durchblutungsförderung seiner Füße. Er hatte einen Stein im Schuh. „Danke heiliger Liborius“, flüsterte er. „Ich habe verstanden.“ Der alte Mann rief seinen Hund und humpelte tapfer nach Hause.
 
 
© 2017 Erwin Grosche