Das Leben lernen

Anne Müller – „Sommer in Super 8“

von Frank Becker

Umschlagabbildung © privat
Das Leben lernen
 
Roman einer Kindheit in den 70ern
 
Clara König wird im Jahr 1963 als mittleres von bald fünf Kindern in eine Landarztfamilie im fiktiven Schallerup im äußersten Norden Schleswig-Holsteins hineingeboren. Die Mutter ist schön, elegant und klug, der Vater von seinen Patienten geschätzt, weltmännisch und witzig, aber auch ein Bruder Leichtfuß, der es mit der ehelichen Treue nicht zu 100% ernst meint und auch einem guten Schluck nicht abgeneigt ist. Clara bewundert ihren charmanten Vater, der sie oft zu seinen Patientenbesuchen auf dem Land mitnimmt. Sie lernt Krankheit und Sterben kennen, aber auch, über das Erfahrene zu schweigen und sich Gedanken über gewisse Abläufe des Alltags und Lebens zu machen. Mit den Jahren kommt sie dahinter, daß der glänzende Lack auf der Familienidylle dünne Stellen hat, denn wenn man in einem kleinen Ort mit nur einem Friseur, einer Drogerie, einer Kneipe und eigentlich ohne Ausweichmöglichkeiten wohnt, kann nichts lange verborgen bleiben. Die Fassade der angesehenen Familie bröckelt, hält jedoch noch, weil alle es so wollen, bis eine Katastrophe das Gebäude zum Einsturz bringt.
 
Scheinbar leicht, doch tatsächlich mit erstaunlicher Tiefe und leisem Humor erzählt Anne Müller in ihrem beachtenswerten Roman-Erstling vom Aufwachsen eines Mädchens in einer nur scheinbar perfekten bürgerlichen Familie. Als Risse und Brüche kaum noch zu übersehen sind, wird deutlich, unter welchen Opfern Claras Mutter dem Vater in den ländlichen Norden gefolgt ist und wie sehr sie, wenn auch still, leidet. Unter der dünnen Decke der Idylle liegt ein Drama, das Anne Müller gefühlvoll deutlich macht. Daß sie dabei die 70er-Jahre mit einem gewissen Schmunzeln und dem Zeitkolorit von Tritop, Drei-Wetter-Taft, Brandt Zwieback, Apfelshampoo, Tanzstunde, Alexandra, Häschen-Witzen, BRAVO, „Mädchen“ und Super-8-Filmen als Kulisse benutzt, macht dem Leser, der jene Zeit erlebt hat, alles sehr greifbar.
Entscheidend für den Rang des Romans aber ist Anne Müllers Vermögen, die Gefühlswelt und Gedankengänge eines Mädchens zu vermitteln, das zwischen unbeschwerter Kindheit und erstem Erwachen, zwischen Schule und Kirche, mit erster Verliebtheit und Enttäuschung und tiefer Trauer das Leben lernt. Das ist ihr fabelhaft gelungen. Eine Empfehlung der Musenblätter.
 
Anne Müller – „Sommer in Super 8“
Roman
© 2018 Penguin Verlag, 317 Seiten, gebunden, mit Schutzumschlag und Lesebändchen ISBN: 978-3-328-60015-2
€ 20,- [D] / € 20,60 [A] / 28,90* sFr (* empf. VK-Preis)

Weitere Informationen: https://www.randomhouse.de/