Lyrik der Anmut

„Das Buch der klassischen Haiku - Japanische Dreizeiler“

von Frank Becker

Umschlag: Utagawa Hiroshige, Flußlandschaft 1853
Lyrik der Anmut
 
Haiku, die Kunst der kleinen Form
 
Viel Schnee vorm Haustor –
Wie lange schlief ich da wohl
Am Neujahrstage?
(Fura)
 
Nach „Haiku“ - Gedichte aus fünf Jahrhunderten“ im vergangenen Jahr, in dem Eduard Klopfenstein und Masami Ono-Fellner ein Standard-Werk zur Haiku-Dichtung geshaffen haben, legt der Reclam Verlag einen weiteren herausragenden Band zum Thema in einer schönen Neuauflage vor: „Das Buch der klassischen Haiku“, von Jan Ulenbrook (1909–2000) ursprünglich 1979 beim Wilhelm Heyne Verlag in der Reihe „Heyne Lyrik“ und 2004 zum ersten Mal bei Reclam aufgelegt.
Jan Ulenbrook war schon 1960 mit einer Anthologie von Haiku an die Öffentlichkeit getreten. Seine Übersetzungen japanischer Lyrik wuchsen im Lauf der Zeit auf etwa 1700 Haiku und Tanka an. Fast 1000 davon versammelt „Das Buch der klassischen Haiku“.
Die einzigartigen japanischen Kurzgedichte, welche Dichtung und Philosophie mit scheinbar leichter Hand hingetuscht und doch wie für Ewigkeiten in Worte gemeißelt verbinden, sind eins wie das andere Kostbarkeiten der kleinen Form.
 
Ob Pflaumen blühten,
Ob Nachtigallen schlugen,
Allein war ich doch.
(Issa)
 
„Um Haiku zu schreiben, werde ein drei Fuß großes Kind“, sagt Bashō (1644-1694), der Altmeister dieser Gedichtform. Denn das Ziel der Haiku-Dichtung, der kürzesten japanischen Gedichtform aus Dreizeilern mit 17 Silben die flüchtige Stimmung eines Augenblicks in der knappen Form eines Dreizeilers zum Ausdruck zu bringen, läßt sich nur durch Schlichtheit der Sprache und ein Gemüt erreichen, das sich der unmittelbaren Sinneswahrnehmung ganz hingibt. Dabei stehen Melancholie und Glücksgefühl, Bitternis und Humor, Ironie und tiefer Ernst, Trauer und der Jubel des leichten Herzens gleichberechtigt als Impuls und Ausdruck nebeneinander. Die Beobachtung der Natur und ihrer Fauna und Flora ist für die Dichter ein nimmer versiegender Born der Inspiration.
Die Weizenähren
Ergriff ich mit aller Kraft
Beim Abschiednehmen.
(Basho)


Foto © Jürgen Kasten


Die Anthologie Ulenbrooks umfaßt, den Jahreszeiten folgend, die Themenkreise Frühling – Sommer – Herbst – Winter, beginnt aber mit Neujahr, quasi als bedeutsamer Einstieg ins Jahr. Sie vereint mit u.v.a. Bashō, Buson, Issa, Takashi, Shiki, Tatsuko, Taigi, Koyo, Yasen, Shuson, deren Vorgängern, Schülern und Nachfolgern die bedeutendsten Dichter Japans und ist mit ihren fast 1000 Haiku die umfangreichste Ausgabe auf dem deutschen Buchmarkt. Die Übersetzungen von Jan Ulenbrook bewahren die strenge Form, um diese Sprachkunstwerke adäquat wiederzugeben. Zugleich öffnet seine dem Wesen Japans Ausdruck gebende Sprache dem Leser eine mit fortschreitender Lektüre klarer werdende Sicht auf die Denkweise und das Fühlen von dessen Kultur. Ein wunderbares Buch, das unser Prädikat, den Musenkuß verdient.
Vor weißen Astern
Hält eine Weile inne
Die Blumenschere.
(Buson)
Inhaltsverzeichnis
Zu Neujahr - Zum Frühling - Zum Sommer - Zum Herbst - Zum Winter
Nachwort – Nachbemerkung – Literaturhinweise - Verzeichnis der Dichter
Verschlossne Türen
An all den vielen Häusern:
Das Dorf im Winter
(Shiki)
 

Foto © Jürgen Kasten

„Das Buch der klassischen Haiku - Japanische Dreizeiler“
Auswahl, Übersetzung und Nachwort: Jan Ulenbrook - mit Nachbemerkungen von Volker Probst
© 2004/2018 Reclam Verlag, 319 Seiten, gebunden,  9,6 x 15,2 cm - ISBN: 978-3-15-011175-8
16,- €
Weitere Informationen: www.reclam.de
 
Lese-Empfehlungen zum Thema:
- Tom Lowenstein – „Klassische Haiku“, Librero 2015
- Gerolf Coudenhove – „Japanische Jahreszeiten - Tanka und Haiku aus dreizehn Jahrhunderten“, 1963/2015 Manesse Verlag
- Fitzgerald Kusz – „Guuder Moond“ Haiku, 2015 ars vivendi 
- Amira Ben Saoud & Manfred Gram – „Wie man hassen soll“, 555 Haikus gegen alles, 2015 Milena Verlag
„Haiku“ - Gedichte aus fünf Jahrhunderten, 2017 Verlag Philipp Reclam jun.,