Seh-Reise (31)

Einunddreißigste Ausfahrt: Michelangelo Caravaggio

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Frank Becker
Michael Zeller: Seh-Reise (31)
 
Mit Bildern durch das Jahr
 
31. Ausfahrt: Michelangelo Caravaggio, Hieronymus

Das passiert mir zum ersten Mal jetzt auf diesem Gang durchs Jahr mit Bildern, die ich aufgesammelt habe während meines Lebens, als Kunstkarten, mitgenommen zur Erinnerung in kleiner Münze. Viel Vergessenes ist dabei aufgetaucht aus frühen Zeiten, zum Teil noch der Schuljahre, der ersten Reisen ins Ausland, in die Ferne. Manches war mir so fremd, als hätte ich es noch nie gesehen, manches so vertraut und nah, als wäre ich damit auf die Welt gekommen, wie mit meinem Namen.
Bei Caravaggios Hieronymus erlebte ich in dieser Woche ein Drittes. Natürlich erkannte ich den Greis sofort wieder, wie er da am Tisch sitzt und die Bibel übersetzt. Auch die Art, wie Caravaggio ihn festgehalten hat, kann man nicht vergessen. Doch allmählich dämmerte bei dieser Karte, während ich sie unschlüssig in den Händen drehte, eine Erinnerung auf, die in Tieferes reichte. Ja, da war noch etwas gewesen. Dieser Hieronymus muß einmal lange bei mir in der Wohnung gehangen haben, und dieses Vertrautsein, das einst dabei entstanden war zwischen Bild und Betrachter – das war verschwunden gewesen.
Lange, lange Jahre her, Jahrzehnte. Jetzt schmunzle ich über diesen jungen Mann, der ich damals war. Was hatte mich angetrieben, diesen halbnackten alten Mann, der über Büchern brütet, mit einem Schädel so nackt wie der Totenschädel neben ihm, in meine enge Studentenbude zu hängen oder aufzustellen, vielleicht sogar auf den Schreibtisch, immer im Blick? Dieses seelische Bedürfnis ist mir heute, da ich selbst in die Lebensphase des Hieronymus hineingewachsen bin, verloren gegangen, und ich blicke darauf zurück wie auf einen alten Bekannten, den man nach Jahren wiedertrifft und erst allmählich inne wird, wie vertraut und wichtig er einem früher einmal gewesen ist. Das ist es, was mir das Lächeln ins Gesicht treibt. Eher belustigt als wehmütig.

 

Ja, es war in den Jahren des Studiums gewesen, als ich die Semesterferien fast ausschließlich in Italien verbrachte, allein, auf Kunstreisen, Rom, Neapel, Sizilien: Kirchen, Tempel, Museen. Es war zugleich, ohne daß es in mein Bewußtsein drang, eine Reise ins Christentum gewesen. Zuhause ohne Kirche und Bibel großgeworden, holte mich erst jetzt, als jungen Erwachsenen, die Religion ein. Aber nicht als ein abgefordertes frommes Verhalten, mit Gottesdienst und Beten und Konfirmation, sondern als Bildwelt. Da mir die christlichen Inhalte fremd waren, erwarb ich sie mir aus kunsthistorischen Büchern und Reiseführern, um die Bilder und Statuen zu erkennen, die mich so beeindruckten, die ich lieben lernte – und verehren. Aber als Werke der Kunst. Nichts weiter.
Einer meiner liebsten Gegenstände der italienischen Malerei war tatsächlich von früh an eben dieser Hieronymus gewesen. Ein Einsiedler, der abgesondert von den Menschen die Bibel aus dem Hebräischen ins Latein übersetzte. Diese Höhlenexistenz, mit einem Löwen als seinem einzigen Gefährten, beeindruckte mich stark. Zum ersten Mal lernte ich sie auf Dürers Kupferstich kennen, in altdeutschem Gehäuse, beim Kunstunterricht der Schule. Aber diese kleinteilige Enge, in Schwarzweiß, beflügelte mich nicht. Erst auf den farbenfrohen Tafelbildern oder Fresken Italiens ging mir die Figur auf und entwickelte den Zauber, dem ich mich in diesen Jahren lustvoll ergab.

Höhepunkt war Caravaggios Gemälde aus der Galleria Borghese in Rom. Alle sonstigen Attribute des Heiligen, die mir wenig bedeuteten  – der Löwe als zahmes Haustier, das Kruzifix, mit dem der Alte rang -, fehlten hier. Auf diesem Bild ist nur der Übersetzer zu sehen bei seiner Arbeit: Mit kurzsichtigem Blick bannt er den Text, die Schreibhand am Ende eines überlangen nackten Arms weggestreckt, den Stift zwischen den Fingern fast vergessen. Ein leerer Tisch. Um ihn dunkler Raum. Keinerlei Ablenkung. Lediglich der Totenkopf auf einem Lexikon, als Erinnerung daran, daß wir alle in der Zeit sind und ihr zum Schluß unterliegen werden.
Aber dieses wundervolle Kardinalsrot des Gewandes! Das weiße Laken unter einem alten Folianten! Und diese göttliche Balance der beiden blanken Schädel, eines Toten und des Lebenden. Die nackte Armseligkeit eines Einzelnen und sein Triumphieren im Geist. Das sprach mich an. Das war ein Bild, das mir Kraft gab und Zuversicht in das eigene, so fragwürdige Tun.
Ein Heiligenbild damals für mich, vollkommen säkularisiert, das eine Weile meinen Weg begleitet hat und irgendwann sich auflöste und vergessen wurde. Heute berührt mich daran ein Stück biografische Vergangenheit und – über allem – die Begeisterung für das Wunder von Kunst.
 
Michelangelo Caravaggio, Hieronymus, 1606. Galleria Borghese, Rom
 
 
Redaktion: Frank Becker